Spahn: „Alle haben in der Pandemie unwiederbringliche Momente verloren“

Mit Watson spricht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn über die Situation junger Menschen in der Pandemie, die Impfquote und Spannungen innerhalb der Gesellschaft.

Watson: Herr Spahn, was machen Sie am ersten Tag, an dem Sie kein einziges Mal das Wort Corona hören werden? 

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Na, dann freue ich mich, weil wir dann raus sind aus der Pandemie. Und auf diesen Tag freuen sich, glaube ich, sehr viele Deutsche. 

Sie haben der "Augsburger Allgemeinen" gesagt, dass sie damit rechnen, dass es im Frühjahr 2022 so weit ist. Was macht Sie denn so zuversichtlich – obwohl die Impfungen weiter nur sehr schleppend vorankommen?

Ich möchte noch einmal eines klarmachen: Die Herdenimmunität, die wir brauchen, um die Pandemie zu überwinden, werden wir auf jeden Fall erreichen.

Die Zahl der Impfungen stagniert zurzeit.

Spahn: Wir erreichen sie tatsächlich entweder durch Impfung oder durch Infektion. Und das Risiko, dass Menschen ohne Schutzimpfung sich im Herbst und Winter mit dieser ansteckenden Delta-Variante anstecken, ist sehr hoch. Deswegen werbe ich für die sicherere Alternative, die Impfung. Jedenfalls bedeutet das mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass wir im Frühjahr 2022 zur Normalität zurückkehren. 

Sie sagen also: Die Frage ist bei dieser Pandemie nicht mehr, wann wir ans Ziel kommen – sondern, wie der Weg dorthin aussieht.

Die Frage ist vor allem, wie belastend der Weg ist: Wie viele Kranke und Tote es noch geben wird und wie viel Belastung für Pflegekräfte. Ich sage übrigens jedem, der mir erzählt "Es ist meine Entscheidung, ob ich mich impfen lasse”, dass das nur die halbe Wahrheit ist.. 

Weil?

Weil jeder Ungeimpfte mindestens für die Pflegekräfte auch mitentscheidet. Ich war in den letzten zwei, drei Wochen in vielen Kliniken. Ob in Essen oder in Mühldorf am Inn in Bayern: Auf den Intensivstationen sind fast nur Covid-19-Patienten ohne Impfung. Und darüber sind natürlich Pflegekräfte, die jetzt drei Wellen mit vollen Intensivstationen und viel Stress hinter sich haben, enorm frustriert. Ich verstehe das gut.

Wenn man die Impfquoten in der EU vergleicht, dann fällt auf, dass ein paar Länder deutlich besser dastehen als Deutschland: In Portugal, Spanien und Dänemark sind die Quoten um mehr als zehn Prozentpunkte höher als hier. Was machen die Regierenden dort besser?

Ich habe eher den Eindruck, dass in diesen Ländern einfach noch mehr Bürgerinnen und Bürger den Weg mitgehen, weil sie die Pandemie viel härter erlebt haben. Die Regierungen machen aus meiner Sicht gar nicht so viel anders als wir. Ich möchte aber betonen, dass sich auch in Deutschland vier von fünf Erwachsenen impfen lassen haben. 

Aber es ist eben noch Luft nach oben. 

Andere Länder gehen aber auch stärker dahin, die Bürger zur Impfung quasi zu verpflichten. Bei uns in Deutschland sehen wir ja schon bei der Frage, ob Ungeimpfte in Quarantäne weiter ihren Lohn bekommen sollen, welche Spannungen da entstehen. 

Ein schmaler Grat für Sie?

Eigentlich für uns alle. Zum einen muss man unterscheiden zwischen Geimpften und Ungeimpften, schon allein aus medizinischen Gründen. Zum anderen riskiert man, Menschen zu verlieren, wenn man zu viel Druck ausübt. Die Balance zu halten ist schwierig. 

In Italien dürfen seit Kurzem nur noch Geimpfte, Getestete und Genesene in öffentliche Verkehrsmittel und an den Arbeitsplatz. Seither sind die Impfquoten dort noch einmal merklich nach oben geschnellt. Warum trauen sich die Regierenden das in Deutschland nicht? 

Es geht nicht nur darum, was man sich traut. Sondern auch darum, was notwendig ist. Aus unserer Sicht bietet die Maske im öffentlichen Nah- und Fernverkehr hinreichenden Schutz. Und in vielen Bereichen gilt ja schon die 3G-Regel – also Zutritt nur für Geimpfte, Genesene und Getestete. Ich würde mir in Deutschland aber auch etwas anderes wünschen. 

Was meinen Sie? 

Dass wir die Nachweise noch mehr kontrollieren. Ich bin bei meinem Kurzbesuch in Rom zum Treffen der Gesundheitsminister der G20-Staaten an einem Tag öfter kontrolliert worden als hier in zwei Wochen. 

Da erschüttern Sie aber gerade ein paar Klischees, die manche Deutsche über Italien haben.

In der Tat. Die Italiener haben aber auch richtig harte Zeiten in der Pandemie hinter sich. Da kann man deren Vorsicht verstehen. Ich glaube, dass mehr verbindliches Überprüfen auch bei uns noch den einen oder anderen überzeugen kann, sich impfen zu lassen. 

Sie versprechen seit Wochen, dass es einen weiteren Lockdown für Geimpfte nicht geben wird. Was macht Sie eigentlich so sicher?

Die Voraussetzung dafür ist, dass es keine Variante des Virus gibt, gegen die Impfungen nicht wirken. Aktuell sehen wir das nicht. Wenn die Impfstoffe weiter wirken, gibt es weder rechtlich noch medizinisch einen Grund, Geimpfte in ihrer Freiheit einzuschränken. Menschen, die geimpft sind, können einkaufen gehen oder sich mit anderen zu treffen, egal wie hoch die Inzidenz ist. 

Auch wenn es keinen Lockdown mehr geben sollte: Während der Corona-Pandemie haben sich manche Menschen in Deutschland radikalisiert. Am vergangenen Wochenende hat in Idar-Oberstein ein Mann einen jungen Tankstellenkassierer erschossen – mutmaßlich, weil der ihn auf die Maskenpflicht hingewiesen hatte. Was haben Sie gedacht, als Sie davon erfahren haben? 

Das macht mich fassungslos, traurig und wütend zugleich. Weil es nicht mal im Affekt passiert ist, sondern offenbar eine überlegte, kaltblütige Tat war. Und ich frage mich: Was führt dazu, dass jemand sich so verirrt in einer Gedankenwelt, die ihn glauben lässt, so eine grausame Tat sei gerechtfertigt? 

Haben Sie Antworten auf diese Frage?

Das hat viel zu tun mit Hass, Hetze, Verschwörungsmythen, die in sozialen Medien allgegenwärtig sind. Am Dienstag in Aalen in Baden-Württemberg hatte ich wieder so eine Begegnung, am Rande einer Veranstaltung. Drinnen hatte ich auch mit Bürgerinnen diskutiert, die kritisch waren. Und solange man miteinander reden kann, ist das ja gut. Aber draußen waren dann Demonstranten, die die Impfung mit Massenmord verglichen haben und mir "Mörder" und „Volksverräter“ zugerufen haben. 

Woher kommt dieser Hass aus Ihrer Sicht?

Wenn jemand sich immer weiter in diese Welt aus Verschwörungsmythen hineinbegibt, dann glaubt sie oder er irgendwann berechtigt zu sein, den Worten Taten folgen zu lassen. Das ist ja das, was Extremismus ausmacht: Rechtsextremismus, Linksextremismus, Islamismus und diesen Pandemie-Extremismus. 

Sie sind in den vergangenen Monaten immer wieder auch auf Menschen aus dem "Querdenker"-Milieu zugegangen, die Sie beschimpft hatten – und haben versucht, mit ihnen zu sprechen. Die Videos davon sind durch soziale Netzwerke und Medien gegangen. Denken Sie nach der Tötung in Idar-Oberstein darüber nach, was bei diesen Aufeinandertreffen hätte passieren können? 

Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Sonst könnte ich ja irgendwann überhaupt nicht mehr mit Leuten ins Gespräch kommen. Gott sei Dank gibt es ja auch Polizistinnen und Polizisten, die auf mich aufpassen. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Aber wer die will, muss sich zu Hause einschließen. 

Sie sind auch kritisiert worden, weil sie diese Gesprächsangebote gemacht haben: Zum Beispiel im April, als Sie auf die Initiatoren der #allesdichtmachen-Kampagne zugegangen sind. Bereuen Sie das heute? 

Nein, im Gegenteil. Was soll denn helfen, wenn nicht Gespräche? Für viele Menschen waren diese Pandemiemonate eine harte Zeit, auch emotional: für Kinder, Jugendliche, Familien, für Leute, bei denen es auf einmal um die wirtschaftliche und berufliche Existenz ging. Dass da viel Frust ist, verstehe ich. Deshalb werbe ich dafür, gerade dann auch bei sehr unterschiedlichen Meinungen miteinander zu reden. 

Wo ziehen sie da die Grenze? Mit wem reden Sie nicht mehr?

Wenn ich zu Menschen hingehe und nur höre "Hau ab! Hau ab!" oder "schwule Sau", dann ist kein Gespräch möglich. Trotzdem muss man es immer wieder probieren. Und weil Sie #allesdichtmachen erwähnt haben: Da ging es um Künstler - Menschen, die etwas ausgedrückt haben, das sie in der Lockdown-Zeit beschäftigt hat... 

...die aber auch teilweise Verschwörungsmythen über Politik und Medien verbreitet haben

Ja. Aber es hilft manchmal trotzdem, die Leute mit ihren Vorwürfen zu konfrontieren. Ich hab' da auch mal zum Beispiel gefragt: Warum sollte der Spahn Gefallen daran finden, Menschen irgendwie einzuschränken? Wie kommt ihr auf die Idee, dass mir das hier Spaß macht? Aber das kriegt man nur hin, wenn man miteinander redet. Und das finde ich schon wichtig. 

Bei den Kollegen der "Welt" war zu lesen, dass sie der erste Bundesgesundheitsminister sind, der in einer gepanzerten Limousine unterwegs ist. Macht das was mit Ihnen? 

Es zeigt mir, was los ist in unserem Land, wie spannungsreich diese Zeit ist, auch für mich als Gesundheitsminister. Ich versuche trotzdem, die Dinge weiter so normal wie möglich zu machen. Aber der spontane Besuch auf dem Marktplatz ist eben schwieriger als vorher. 

Wie oft haben Sie sich gedacht: Warum tue ich mir das an? 

Nie. Zu meinem Verständnis von Politik gehört es, Verantwortung zu übernehmen, gerade in so einer Pandemie. Das bedeutet dann eben auch, die Entscheidungen, die wir als Regierung oder als Bundestag gemeinsam getroffen haben, nach außen zu vertreten. Aber ja, es gibt Momente, in denen ich vor brüllenden Menschen stehe und denke: Du wärst jetzt lieber bei deinen Freunden und deiner Familie. Aber im nächsten Moment denke ich: Du bist in die Politik gegangen, weil du Verantwortung für das große Ganze übernehmen willst. Und solche Dinge gehören dann halt dazu.

Sie haben andererseits im Winter auch viel und heftige Kritik von Medien und vom politischen Gegner bekommen: Weil die Impfkampagne nicht anlief, wegen überteuerter Maskenkäufe. Haben Sie da manchmal gedacht: “Ich lass' das jetzt einfach sein”? 

Nö. So bin ich nicht gestrickt. Wenn ich etwas beginne, dann will ich es auch zu einem guten Ende bringen.

Woraus ziehen Sie dann Kraft? 

Vielleicht ist es der Münsterländer in mir. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, weil die mich durch ihre Erziehung resilient haben werden lassen. Resilient sein heißt ja nicht, dass du die Dinge nicht an dich ranlässt. Es heißt aber, seinen Gefühlshaushalt nicht so leicht durcheinander bringen zu lassen. Ich gehe gerne spazieren. Und manchmal sehe ich dann einen alten Baum und denke mir: Der hat schon viel mehr erlebt als du, dann stehe ich das hier jetzt auch durch. 

Besonders junge Menschen haben in der Corona-Zeit verdammt viel durchstehen müssen: geschlossene Unis, monatelang fast keine Freizeitmöglichkeiten, eine drastische Zunahme psychischer Erkrankungen. Viele junge Erwachsene haben das Gefühl, sie hätten einen Teil ihrer Jugend unwiederbringlich verloren. 

Alle haben in der Pandemie unwiederbringliche Momente verloren. 

Aber für junge Menschen, in der Zeit zwischen Schulabschluss und Berufsbeginn, ist das besonders schmerzhaft, denken Sie nicht?

Ja, aber das ist auch das, was das Wort Schicksal meint. Das ist eine Jahrhundert-Pandemie, über die die Welt noch in 100 Jahren reden wird. So, wie wir heute noch über die Spanische Grippe reden. Ein sechsjähriges Kind hat jetzt ein Viertel seines Lebens in dieser Pandemie verbracht. Das ist hart. Das ist ungerecht. Ein Naturereignis ist über uns gekommen. Dafür gibt es keinen Schuldigen.

Das hört sich an, als wären wir machtlos.

Ein Stück weit ist das so. Es geht nicht darum, die persönlichen Erlebnisse zu relativieren. Wir sollten aber akzeptieren, dass es eben ein Naturereignis ist. Das heißt ja nicht, dass das ganze Leben futsch ist oder dass es deswegen keine guten Jahre mehr geben kann. 

Trotzdem haben viele junge Menschen den Eindruck, vernachlässigt worden zu sein. Im Januar hat in einer Umfrage für watson eine überwältigende Mehrheit der jungen Erwachsenen gesagt, auf ihre Interessen werde nicht geachtet. Die Angst vor der Zukunft hat bei jungen Menschen während der Pandemie massiv zugenommen. Was haben Sie als Bundesregierung da falsch gemacht? 

Viele haben sich in dieser Pandemie alleine gelassen gefühlt, das war eine harte Zeit. Und wir haben über wenige Themen so gerungen wie darüber, ob wir Schulen, Kitas und Unis schließen sollen. Weil wir wissen, was das für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bedeutet. Keiner hat sich das leicht gemacht. Wir haben versucht, das bestmöglich abzufedern. 

Es bleiben auch auch Spuren.

Wir haben einiges aufzuarbeiten: psychosomatische Erkrankungen, die entstanden sind, mangelnde Bildungschancen. Als die Schulen geschlossen haben, hat es die besonders hart getroffen, die es vorher schon schwer hatten, weil zu Hause vielleicht keiner helfen will oder kann. Und dann sind wir wieder bei dem Punkt, den ich vorhin schon angesprochen habe. 

Nämlich?

Es hilft nur reden, um etwas tun zu können. Ich finde aber: Auch nach der Pandemie leben junge Menschen heute im besten Deutschland, das es jemals gab. Wenn ich mit jungen Menschen rede, sage ich ihnen immer: Ihr habt ein Leben vor euch wie keine Generation zuvor, was Wohlstand, technologischen Fortschritt und Mobilität angeht. 

Naja, junge Menschen mussten anderthalb Jahre lang mit Maske auf der Schulbank oder zu Hause vor dem Laptop sitzen und durften kaum Freunde treffen. Auf der anderen Seite dürfen ältere Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, heute ins Fußballstadion gehen oder in den Urlaubsflieger steigen. Trauen sich die Regierungsparteien einfach nicht, älteren Menschen so viel zuzumuten wie jüngeren – weil die Älteren einen größeren Teil der Wähler ausmachen? 

Nein, das ist nicht der Punkt. Und bei der Schule ist es ja nicht so einfach: Es gibt weiterhin Eltern und zum Teil auch Kinder und Jugendliche, die sagen: Ohne Maske und Test gehe ich nicht in die Schule, weil ich Angst vor einer Infektion habe. Und außerdem dauert der Aufenthalt in der Schule natürlich deutlich länger als die meisten Restaurantbesuche. 

Trotzdem entsteht bei vielen der Eindruck, dass die Interessen junger Menschen weniger wert sind.

Ich verstehe, dass dieser Eindruck manchmal entsteht. Wir wurden ja teilweise durch Gerichtsurteile zu Maßnahmen gezwungen, die nur schwer verständlich waren. So mussten wir z.B. die Bordelle wieder aufmachen, während die Schulen noch geschlossen waren. Das kann man Schülerinnen und Schülern schwer bis gar nicht erklären. Oft wurden in solche Entscheidungen Wertungen reingelesen, die es überhaupt nicht gab.

Eine Folge des Coronavirus, die besonders jüngere Menschen betrifft, ist das Long-Covid-Syndrom, das manche Covid-Erkrankte noch Monate später plagt und ihr Leben zur Hölle macht.  Was versprechen Sie jungen Menschen, die davon betroffen sind?

Wir können zusagen, dass wir die Forschung in diesem Bereich unterstützen. Wir wissen ja bis heute nicht wirklich gut, was bei Long Covid im menschlichen Körper passiert. Wir werden mithelfen, dass mehr Behandlungszentren und Expertise entstehen, bisher gibt es nur zwei, drei Standorte für Behandlungen in Deutschland. Und wir unterstützen die Forschung an Medikamenten.

Viele, die an Long Covid erkrankt sind, haben das Gefühl, nicht gesehen zu werden. 

Diese Woche Mittwoch haben wir dazu einen Bericht mit konkreten Maßnahmen im Kabinett vorgelegt. Die Regierung beschäftigt sich mit dem Thema. Wir arbeiten daran, den Menschen zu helfen. Es sind ja wahrscheinlich Hunderttausende betroffen. 

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