"Ihre Tochter spielte immer 'Für Elise'"
Natascha Möller (27), Pflege im Quartier Waltrop
In den zehn Jahren, die ich im Pflegeberuf tätig bin, habe ich viele schöne und auch prägende Ereignisse erleben dürfen. Doch an eine Person werde ich immer zurückdenken.
Ich habe in einem Heim gearbeitet. Dort wurde ich später Leiterin einer Tagespflege, die sich im selben Gebäude befand. Mir gefiel die Arbeit sehr, da man in der Tagespflege viel mehr Zeit hatte, um mit den Menschen tiefgründig zu reden und ihnen zuzuhören, ohne angehetzt und mit den Gedanken schon wieder beim nächsten Bewohner zu sein.
Eines Tages kam eine ältere Dame mit ihren Kindern zu mir und bat um einen Probetag. Ich wusste nicht wieso, aber diese Frau war für mich nicht einfach nur ein neuer Gast. Sie schien mir so vertraut, als ob ich sie kennen würde. Der Probetag lief gut, und wir machten zwei feste Tage in der Woche aus, an denen Frau P. zu uns in die Tagespflege kommen würde.
Unsere Gespräche waren sehr tiefgründig. Es war, als wäre man sich schon einmal begegnet, als hätte man die gleichen Gedanken irgendwann erzählt. Sie sagte mir, dass sie am gleichen Tag wie ich geboren wurde und vor ihrer Heirat denselben Nachnamen getragen hatte wie ich. Von da an war ich für sie nur noch Fräulein M.
Mir fiel auf, dass ihre Blicke immer wieder auf unser Klavier fielen. Dabei drückte sie ihre Kette mit dem Herzanhänger fest in ihre Hände.
Ich fragte sie: "Haben Sie früher Klavier gespielt?“ Sie antwortete mir mit Tränen in den Augen: "Nein, aber meine verstorbene Tochter tat es fast jeden Tag für mich." Ich fragte sie, welches Lied es denn gewesen wäre? Sie antwortete: '‘Für Elise‘ von Beethoven."
Ich sagte ihr, sie solle kurz warten, rannte zum Telefon und fragte einen Arbeitskollegen, der in der Kirche Orgel spielte, ob er mir jetzt diesen einen Gefallen tun würde. Er kam direkt, setzte sich ans Klavier, und ich nahm auf dem Rollator neben Frau P. Platz.
Mein Arbeitskollege fing an, das Lied zu spielen, und schon begannen die Tränen meiner lieben Frau P. über ihre Wangen zu laufen. Sie hielt meine Hand ganz fest, und auch ich musste weinen. Ich wusste, dass Frau P. in diesem Moment ganz nah bei ihrer Tochter war.
Frau P. erzählte mir viel von ihrem Leben, vom Krieg, als sie noch klein war, und von ihrem wunderbaren Mann. Sie sagte mir, dass es so wichtig ist, den Menschen, die man liebt, jeden Tag zu sagen, wie wichtig sie einem sind, bevor sie aus dem Haus gehen!
Sie hat ihren Mann jeden Tag zur Haustür begleitet und ihm gesagt, er solle auf sich aufpassen – bis der Tag kam, an dem er nicht mehr zurückkehrte. Ein LKW-Fahrer hatte auf der Autobahn einen Sekundenschlaf, es gab einen Auffahrunfall. Ihr Mann war auf der Stelle tot. Sie zog ihre Kinder alleine groß.
Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem Frau P. als Bewohnerin in unser Heim ziehen sollte.
Ich nahm ihr die Angst und versprach, immer nach ihr zu schauen und sie tagsüber in die Tagespflege zu holen. So geschah es auch. Doch irgendwann ging es nicht mehr, sie hatte immer weniger Kraft. Ich bin jeden Abend nach der Arbeit zu ihr in den Wohnbereich gegangen, bis auf den besagten Abend. Mein Gefühl hatte mich geleitet. Als ich am anderen Tag kam, war sie verstorben.
Ein paar Tage später kamen ihre Kinder und sagten mir, dass sie von ihrer Mutter ausrichten sollen, dass ich und meine Kollegin zwei ganz besondere Menschen für sie gewesen sind. Sie wollte sich bei uns bedanken, und alles, was sie in ihrem Zimmer hinterlassen hat, würde uns gehören. Wir sollten nehmen, was wir wollten – das war ihr eine Herzensangelegenheit.
Ich denke sehr oft an diese weise Frau, die mir viel Lebensstärke gegeben hat, mit der ich über den Tod meines Vaters reden konnte, mit der ich lachte und auch weinte.
All diese kostbaren Erlebnisse wird man nur in einem Pflegeberuf erleben. Ein Beruf, in dem man nicht nur pflegt, sondern auch die Seele berührt! Ich könnte mir keinen schöneren Beruf vorstellen, und kein Geld der Welt ist so kostbar wie ein „Danke“, das von Herzen kommt und dieses berührt.