Wenn Unmögliches möglich wird…
Sylwia Stypa (35), Prosper-Hospital Recklinghausen
2010 bis 2012 habe ich eine Fachweiterbildung zur Pflegeexpertin Stoma-Wunde-Inkontinenz gemacht. Die dort geschulten Kompetenzen wollte ich bei jeder Gelegenheit in meinem Pflegealltag umsetzen, das war mein Ziel! Bei der morgendlichen Visite betraten wir mit dem Chefarzt und seinen Kollegen das Patientenzimmer. Ich hatte meinen ersten Tag nach meinem Frei und kannte die Patientin, die sich hinter der Tür befand, nur von der Übergabe vom Nachtdienst. Die Einweisungsdiagnose der 92-jährigen Ilse A. war für uns auf der Urologie nicht ungewöhnlich: Blasenentzündung. Im Gespräch mit dem Chefarzt sagte Frau A., dass sie im vergangenen Jahr häufiger beim Urologen wegen einer Blasenentzündung war und immer wieder ein Antibiotikum verschrieben bekommen hat. Das hat anfangs auch geholfen, aber wenn sie es zu Ende genommen hatte, bekam sie nach einigen Wochen wieder Symptome einer Entzündung. Sie wäre im vergangenen Jahr auch schon öfter in einem anderen Krankenhaus gewesen - auch da hätte sie schon Probleme mit ihrer Blase gehabt.
Um es kurz zu machen: Ilse hatte immer wieder Blasenentzündungen, weil sie ihre Blase nicht restharnfrei entleeren konnte. So konnten sich Bakterien in der Blase ansammeln und Beschwerden verursachen.
Diese Tatsache machte mich hellhörig. Nach Verlassen des Patientenzimmers fragte ich ganz naiv meinen Chefarzt, warum die Patientin denn nicht mittels eines Einmalkatheters den Restharn aus der Blase entleeren könne, um die Gefahr einer Blasenentzündung zu senken? Die ketzerische Aussage des Chefarztes war nur: „Schwester Sylwia, wenn Sie das bei einer 92-jährigen schaffen, dann nur zu.“
Mein Wissen zur Einmalkatheterisierung beruhte auf reiner Theorie, die ich in der Fachweiterbildung gesammelt hatte. Voller Ehrgeiz und Motivation erzählte ich meinen Teamkollegen mein Vorhaben und bat um Unterstützung. Meine Kollegen haben mir den Rücken freigehalten, so dass ich in einer ruhigen Atmosphäre die Patientin über die Möglichkeit der Blasenentleerung aufklären konnte. Ich merkte zwar, dass Frau A. im ersten Moment nicht ganz wusste, was ich da mit ihr vorhatte, aber da wir uns schnell sympathisch waren, konnte unser gemeinsames Projekt beginnen.
Worum es mir bei dieser Geschichte geht, ist nicht die detaillierte Beschreibung des Einmalkatheterisierens. Vielmehr möchte ich alle dafür sensibilisieren, wie weit wir täglich in die Intimsphäre eingreifen. Um die Sensibilität der Geschichte zu verstehen, muss ich dazusagen, dass der Einmalkatheter in die Harnröhre eingeführt werden muss. Demzufolge ist man als Anleiter in so einer Anleitung sehr intim.
Als ich die Patientin über das Vorhaben informierte, brach sie in Tränen aus und öffnete sich mir. Sie sagte, dass sie als junges Mädchen im Krieg vergewaltigt wurde. Dieses Trauma sorgte dafür, dass sie sich noch nie im Intimbereich angeschaut, geschweige denn angefasst hat. Beim Waschen hatte sie immer einen Waschhandschuh als Barriere genutzt.
Diese Geschichte berührte mich so sehr, dass ich meine Emotionen nicht mehr kontrollieren konnte und auch anfing, mit ihr zu weinen.
Ich war selbst sehr überfordert mit dieser Situation, sagte das auch der Patientin und wollte mein Vorhaben abbrechen. Doch was dann passierte, veränderte alles. Die Patientin sagte zu mir: „Mensch Mädchen, jetzt wo du alles weißt, möchte ich das Ding da versuchen, und vielleicht auch nur, um mich mal ‚unten herum‘ zu sehen.“ Verwirrt fragte ich bestimmt dreimal nach, ob ich sie richtig verstanden hatte.
Und hier das Ergebnis:
Meine 92-jährige Patientin hat es tatsächlich geschafft, sich den Einmalkatheter zweimal am Tag zu legen, um den Restharn zu entleeren. Wir waren beide so stolz, dass wir noch im Badezimmer wild anfingen zu applaudieren.
Vier Jahre später hatte ich Spätdienst und betrat ein Zimmer, in dem eine ältere Dame lag. Als wir uns beide sahen, kamen alle Erinnerungen hoch. Sie sagte: „Mensch Mädchen – bist du das?“ und ich fragte nur: „Ilse, sind Sie es?“
Wir freuten uns beide so sehr, uns wieder zu sehen. Im Gespräch sagte mir die Patientin, sie hätte die Maßnahme noch bis vor einem halben Jahr praktiziert und seit unserer Aktion im Bad nicht mehr ins Krankenhaus gemusst. Diese Aussage machte sie und mich sehr glücklich.
Mein Fazit:
Es gibt oft steinige Wege, die uns vor Herausforderungen stellen. Aber es lohnt sich, diese Wege auf uns zu nehmen. Setze bei der täglichen Arbeit nie etwas voraus und gehe sensibel mit jedem Einzelnen um. Und am Ende wirst du mit tollen Erfolgen belohnt!