Spahn: "Die Pandemie ist noch nicht vorüber. Jetzt kommt es auf jeden einzelnen an, durch sein Verhalten sich und andere zu schützen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) über Verschwörungstheorien und das Zweite Covid-19-Bevölkerungsschutz-Gesetz

RND: Herr Minister, Verschwörungstheorien besagen,  Ende der Woche werde in Deutschland die Demokratie abgeschafft und Sie würden der mächtigste Mann des Landes. Was macht das mit einem, wenn man im Mittelpunkt derartiger Behauptungen steht?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Wie es mir dabei geht, ist nicht entscheidend. Es geht ums „Wir“. Nach Jahren der Polarisierung haben wir als Nation wieder ein starkes Wir-Gefühl entwickelt: Wir achten aufeinander, wir helfen einander, wir stehen in einer schweren Zeit zusammen. Die große Mehrheit empfindet und lebt das weiterhin so. Es ist eine kleine Minderheit, die jetzt mit Verschwörungstheorien versucht, die Debatte zu radikalisieren.

Es klingt so, als lehnten Sie die öffentliche Debatte ab.

Im Gegenteil. Sie ist notwendig und wird geführt: in der Gesellschaft, in den Medien, im Parlament. Mir ist sehr bewusst, wie tief wir in die freiheitlichen Rechte der Bürger eingegriffen haben. Da ist eine Debatte darüber, wie weit und wie lange Auflagen in Corona-Zeiten gehen, selbstverständlich. Es wäre sehr beunruhigend, wenn es diese Kontroverse nicht geben würde. Ich verstehe jeden Gastronom, der sagt: „Die Einschränkungen bedrohen meine Existenz.“ Ich verstehe die Eltern, die über die Doppelbelastung von Homeoffice und Kinderbetreuung klagen. Oder die Pflegebedürftigen, die darunter leiden, dass sie ihre Enkelkinder nicht sehen.

Aber was folgt daraus?

Dass wir klar unterscheiden zwischen denen, die Kritik anbringen oder Bedenken äußern, und den wenigen, die mit Verschwörungstheorien spalten wollen. Als Regierung ist es unser Job, immer wieder zu erklären, warum wir welche Entscheidungen treffen. Und dass wir auch offen sagen, dass wir Entscheidungen geänderten Erkenntnissen anpassen müssen. Ich habe oft gesagt: wir müssen in dieser Krise weit reichende Entscheidungen unter großer Unsicherheit treffen. Niemand hat so eine Situation zuvor erlebt. Eine Epidemie ist ein sehr komplexes Geschehen. Und dieses Virus ist bei weitem noch nicht erforscht.   

Sie haben allerdings Ihren Anteil an der bestehenden Verunsicherung, schließlich stammt aus ihrem Haus die Idee, einen Immunitätsausweis einzuführen und davon Einschränkungen der Freiheitsrechte abhängig zu machen. Haben Sie die Folgen nicht bedacht?

Natürlich haben wir innerhalb der Bundesregierung alle Aspekte gewogen, bevor wir gemeinsam diesen Vorschlag gemacht haben. Trotzdem finde ich es richtig, das Vorhaben aus dem aktuellen Eilgesetz zu streichen. Es gab nachvollziehbare Kritik, die mir zeigt: Wir brauchen als Gesellschaft mehr Zeit, dieses Thema zu debattieren. Deshalb habe ich auch den Ethikrat um eine Stellungnahme gebeten.

Warum?

Weil die Frage danach, welche Einschränkungen wann für wen zulässig sind, uns verstärkt beschäftigen werden. Schauen Sie nur auf neueste Gerichtsurteile, nach denen nicht jeder Einreisende nach Deutschland automatisch zur Gefahr erklärt und daher in Quarantäne gezwungen werden darf. Andere Staaten planen bereits, die Einreise künftig von einem derartigen Immunitätsnachweis abhängig zu machen. Das gibt es bei anderen ansteckenden Krankheiten bereits, bei Gelbfieber zum Beispiel. Wir werden uns also weiter mit dem Thema beschäftigen müssen. Denn die Lösung kann ja nicht sein, dass unsere Bürgerinnen und Bürger nicht mehr in Länder reisen können, die solche Regelungen planen.

Zurück zu den Demonstrationen. Viele Teilnehmer verletzen demonstrativ die Abstandsregeln. Kann das toleriert werden?

Demonstrationen gehören zur demokratischen Normalität. Und angesichts der Debatte, die wir gerade führen, sind sie selbstverständlich. Für alle größeren Menschenansammlungen gilt: Wer Abstandsregeln nicht einhält, gefährdet sich und andere, denn gerade dort breitet sich das Virus verstärkt aus. Sollte man deshalb eine friedliche Demonstration auflösen? Ich habe große Zweifel, ob das verhältnismäßig wäre. Schließlich wird dort ein Grundrecht ausgeübt. Langfristig halten wir das Virus nicht mit Zwang in Schach. Das gelingt nur, wenn die Bürger mitmachen wollen, wenn sie sich gegenseitig schützen wollen, wenn sie aufeinander achtengeben wollen. Die große Mehrheit will das weiterhin. Das ist meine feste Überzeugung.

Offenbar haben viele Bürger angesichts der von der Politik beschlossenen Lockerungen den Eindruck gewonnen, die Gefahr sei vorüber. Geht das alles zu schnell?

Der Eindruck wäre auf jeden Fall falsch. Die Pandemie ist noch nicht vorüber. Wir sind mittendrin. Jetzt kommt es auf jeden einzelnen an, durch sein Verhalten sich und andere zu schützen. Entscheidend ist, dass wir weiterhin Abstand voneinander halten. Dass wir die Hygieneregeln beachten. Dass wir Alltagsmasken tragen. Unsere Leitlinie sollte sein: So viel Normalität wie möglich, so viel Schutz wie nötig.

Umstritten ist die Schwelle für die Notbremse, die greifen soll, wenn es innerhalb von sieben Tagen 50 Infizierte je 100.000 Einwohner gibt. Ist sie nicht zu hoch gegriffen?

Dieser Wert bedeutet ja nicht, dass die Landkreise erst aktiv werden, wenn die 50 erreicht werden. Sie kümmern sich seit Wochen um jeden Infizierten, verfolgen jeden Kontakt und versuchen, Infektionsketten zu durchbrechen. Wichtig ist mir vor allem, dass wir nicht mit dem Finger auf die zeigen, die diesen Wert überschreiten. Wenn ein Landrat bei einem Hochwasser um Unterstützung bittet, macht ihm ja auch keiner einen Vorwurf. Sondern es geht dann um das richtige Maß an Unterstützung. Das brauchen wir auch jetzt in der Pandemie. So hilft zum Beispiel in Greiz die Bundeswehr beim Testen, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Und andere Landkreise bitten das Robert-Koch-Institut um Expertise. So muss es sein.

Durch die geplanten Reihentests werden die Zahlen erst recht nach oben gehen. Ist das nicht kontraproduktiv?

Im Gegenteil. Durch die Reihentests können wir das Ausmaß eines Ausbruchs erkennen und dann entscheiden, ob sich der Ausbruch in der betroffenen Einrichtung selbst oder nur mit weitergehenden regionalen Maßnahmen in den Griff bekommen lässt. Nur wenn jede Infektionskette auf lokaler Ebene unterbrochen werden kann, verhindern wir erneute landesweite Einschränkungen.   

Wann kommt die Corona-App?

Es wird mit Hochdruck daran gearbeitet. Die Entwicklung ist jedoch kompliziert, und es ist wichtig, dass wir uns die Zeit nehmen, die es braucht. Ich bleibe dabei: Sobald wie möglich.

Ist es vorstellbar, die Nutzung mit Anreizen zu fördern?

Davon rate ich ab. Das würde die App nur unnötig angreifbar machen. Ich möchte, dass wir mit positiven Argumenten für die App werben und nicht mit der Angst, man könnte was verpassen. Und das geht: Mit der Nutzung der App schützt man sich und andere. Ich finde, das Argument ist unschlagbar.                            

In dem Gesetz, das heute auf der Tagesordnung des Bundestags steht, wird auch der Pflegebonus beschlossen. Wer soll den Anteil zahlen, der bisher nicht finanziert ist? 

Eine Pflegefachkraft in der Altenpflege erhält durch das Gesetz einen Bonus von mindestens 1000 Euro – steuer- und abgabenfrei. Jetzt kommt es darauf an, ob und wie die Länder die Prämie weiter aufstocken. Möglich ist eine steuerfreie Prämie von bis zu 1500 Euro. Bayern, Schleswig-Holstein und Hamburg haben schon erklärt, dass sie aufstocken werden. Ich baue darauf, dass sich andere Länder anschließen. Wir sind uns einig, dass alle, die unter durchgängig erschwerten Bedingungen in dieser Pandemie in der ambulanten und stationären Altenpflege hart arbeiten, eine finanzielle Anerkennung für ihren Einsatz verdienen. Dann sollten wir das auch gemeinsam finanzieren. Bund, Pflegekassen, Länder und Arbeitgeber.  

Allein die Prämie kostet die Pflegeversicherung eine Milliarde Euro. Dazu kommen weitere Mehrausgaben durch die Pandemie. Auch die Krankenversicherung wird Milliarden-Verluste einfahren. Wird es Steuergeld zum Ausgleich geben?

Wir sind uns im Corona-Kabinett einig, dass gerade in einer wirtschaftlich schwierigen Lage die Sozialbeiträge nicht über 40 Prozent steigen dürfen. Daraus folgt logisch, dass es zusätzliche Zuschüsse des Bundes braucht, um die Beiträge in 2021 zu stabilisieren.

Sieht das auch Finanzminister Scholz so? 

Es besteht Einigkeit im Kabinett.

Stand: 14. Mai 2020
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