Spahn: "Schritt um Schritt wieder zu einer normaleren Versorgung in den Kliniken kommen"

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im WAZ-Interview

26. April 2020

Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ): Der erste Coronafall in Deutschland ist jetzt genau drei Monate her. Das Alltagsleben hat sich seitdem komplett verändert. Was vermissen Sie am meisten?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Die Unbeschwertheit. Man fragt sich auf einmal im Alltag: Entspricht das den neuen Regeln oder mache ich etwas falsch? Klar, das muss jetzt so sein. Aber dass wir uns ständig fragen, ob ein Besuch bei den Eltern oder ein Spaziergang okay ist, macht etwas mit uns. Man merkt jetzt, wie selbstverständlich wir die Freiheit in unserem Alltag genommen haben oder welchen Wert der familiäre Zusammenhalt und die Gesundheit haben.

Haben Sie Angst vor Ansteckung? Der Stress als Krisenmanager ist bestimmt nicht gut fürs Immunsystem…

Nein, große Angst um mich selbst habe ich nicht. Ich versuche natürlich alles zu tun, um mich nicht anzustecken. Schon aus Rücksicht gegenüber denjenigen, die besonders gefährdet sind. Aber ich hatte schon vor Corona wegen der Grippeviren in den Wintermonaten immer Desinfektionsmittel im Auto dabei. Vorsicht statt Angst halte ich für eine gute Maxime.

Corona wird den Alltag prägen, bis ein Impfstoff da ist. Jetzt gibt es eine erste klinische Prüfung in Deutschland. Haben wir schon Anfang des Jahres einen Impfstoff für alle?

Ich bin da vorsichtig. Wir werden so schnell keinen marktreifen Impfstoff haben. Wenn es gut läuft, starten in der zweiten Jahreshälfte größere klinische Studien mit mehreren Tausenden Probanden. Wir können jetzt aber schon viel dafür tun, dass die Produktion schnell starten kann, sobald ein Impfstoff zugelassen ist. Indem wir Anreize für die Produktion setzen und dabei die Produktionsstandorte mitdenken. Die Bundesregierung prüft bereits, mit Pharmaunternehmen Abnahmegarantien zu vereinbaren, damit sie in die Massenherstellung investieren.

Wie groß ist die Gefahr, dass Firmen Patente auf Impfstoffe anmelden und ihr Geschäft mit dem meistbietenden Land machen?

Viele Unternehmen werden gerade öffentlich gefördert. Wer mit öffentlicher Förderung ein Patent entwickelt, hat auch eine Verantwortung für das Gemeinwesen. Patentschutz hin oder her. Ich sehe im Moment aber bei allen Unternehmen, ganz gleich ob es deutsche oder US-amerikanische sind, die Bereitschaft, Impfstoffe für alle bezahlbar und verfügbar zu machen.

Am Anfang wird der neue Impfstoff noch nicht für alle reichen. Wer wird als erstes geimpft?

Ich bin erstmal sehr froh, dass die allermeisten das Impfen als die Errungenschaft betrachten, die es ist. Das war in den letzten Jahren bei der Debatte um die Masernimpfung anders. Der Impfstoff gegen das neue Corona-Virus wird natürlich zunächst nicht milliardenfach produziert. Auch in Deutschland werden wir priorisieren müssen: Deshalb soll die Impfkommission beim Robert-Koch-Institut empfehlen, wer zuerst geimpft werden soll. Dazu werden sicher die Risikogruppen und das Medizinische Personal gehören.  

In der Coronakrise gab und gibt es gefährliche Mangellagen – zum Beispiel bei Masken. Was lässt sich daraus für den Impfstoff lernen?

Die Corona-Pandemie wird den Welthandel dauerhaft verändern. Wir haben schon bei den Medikamentenengpässen gesehen, dass zu große Abhängigkeiten von einzelnen ausländischen Herstellern Probleme machen. Eine Lehre ist, das richtige Maß an Globalisierung neu zu bestimmen. Dazu wünsche ich mir eine breite gesellschaftliche Debatte. Wenn wir Liefersicherheit haben wollen, sollten wir bestimmte Produkte zukünftig wieder verstärkt in Europa produzieren. Der Corona-Impfstoff sollte definitiv auch in Europa produziert werden. Nur hier haben wir eine hohe Liefersicherheit.

Seit Anfang der Woche gibt es erste Lockerungen. Wie groß ist ihre Angst vor einer zweiten Infektionswelle?

Niemand kann derzeit sicher einschätzen, wie sich die Pandemie entwickelt. Wir gehen deshalb auf Nummer sicher: Wir gehen einen Schritt, dann warten wir zwei, drei Wochen und schauen, wie sich die Lockerungen auf das Infektionsgeschehen auswirken. Wenn das Geschehen unter Kontrolle bleibt, gehen wir den nächsten. Wir machen die Schritte lieber klein, statt zu riskieren, dass wir nachher drei Schritte zurückgehen müssen. Sonst verspielen wir das, was wir gemeinsam erreicht haben. Wichtig ist, dass wir bei den nächsten Schritten mehr über allgemeine Kriterien als über Quadratmeter-Zahlen reden.

Was meinen Sie damit?

Wir alle spüren ja, dass es für viele schwer verständlich ist, warum Läden mit 799 Quadratmetern öffnen dürfen, Läden mit 801 aber nicht. Oder warum man um den See spazieren gehen darf, aber nicht Golf spielen kann. Je nachvollziehbar die Regelungen sind, desto eher werden sie akzeptiert und gelebt. Besser wäre es deshalb zu sagen: Entscheidend dafür, was stattfinden oder öffnen kann, sind Abstands- und Hygieneregeln. Das Infektionsrisiko muss absolut minimiert wird. Wir wissen heute: Partys oder Volksfeste bergen ein extrem hohes Risiko, denn wer ausgelassen feiert, achtet nicht auf Abstand und Hygiene. Wer dagegen mit dem nötigen Abstand zu anderen in einem Geschäft einkaufen geht oder sich beim Sport im Fitnessstudio fit hält, sollte das tun können. Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger und auch der Unternehmen handelt sehr verantwortungsbewusst.

Die nächste Entscheidung wollen die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten am 6.Mai treffen. Erwarten Sie eine weitere Lockerung?

Das hängt von der Entwicklung ab. Zwei Bereiche werden sicher besonders in den Blick geraten, weil die Akzeptanz der Bürger für die Einschränkungen strapaziert wird. Das eine sind Kitas und Schulen. Die Zumutungen für Kinder, berufstätige Eltern und Alleinerziehende sind sehr groß. Das andere ist der Eindruck, dass die Länder nicht einheitlich vorgehen.

Wann rechnen Sie mit der Rückkehr zur Normalität im Alltag?

Wir werden auf längere Zeit in einem neuen Alltag leben. Dazu gehört, Abstand zu halten, keine Hände zu schütteln, keine Küsschen auf die Wange zu geben und häufig Masken zu tragen. Ein paar Dinge werden möglicherweise sogar auf Dauer bleiben: Vielleicht sagen wir eines Tages: ‚Damals, im Jahr 2020, hat sich das Begrüßen in Europa verändert‘.

Viele haben derart große Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus, dass sie sich selbst bei einem Herzinfarkt nicht mehr in die Notaufnahme trauen. Wie groß schätzen Sie die Versorgungslücke bei den sogenannten non-Covid-Patienten?

Aus den Notaufnahmen gibt es alarmierende Hinweise, dass die Zahl der Patienten mit Schlaganfall und Herzinfarkt in den letzten Wochen zum Teil um die Hälfte zurückgegangen ist. Auch die Krankenkassen beobachten einen deutlichen Rückgang bei Notaufnahmen von Infarktpatienten. Das besorgt mich sehr. Es ist ein Zeichen dafür, dass sich Patientinnen und Patienten trotz schwerer Erkrankung aus Angst vor einer Infektion nicht behandeln lassen. Das Gleiche gilt auch für chronisch Kranke, die im Moment nicht zu ihrem Facharzt gehen oder Patienten, die keine Vorsorgeuntersuchungen mehr machen lassen. Es gilt aber auch für Eltern, die gefährliche Impflücken bei ihren Kindern riskieren, weil sie sich im Moment nicht in die Kinderarztpraxen trauen. 

Wie groß ist Ihre Sorge, dass Menschen nicht an Corona, aber wegen der Coronakrise erkranken oder sogar sterben?

Das ist schwer zu sagen. Vieles werden wir erst im Nachhinein beurteilen können. Aber man muss sehen, dass die Krise auch jenseits von Corona gesundheitliche Folgen hat. Zum Beispiel, weil die eigene wirtschaftliche Situation schwierig wird, einem zu Hause die Decke auf den Kopf fällt oder der Kontakt mit Familien und Freunden fehlt, all das ist auch gesundheitlich belastend. Unser Ziel ist es, das Gesundheitssystem nicht durch Corona zu überfordern und Menschenleben nicht zu gefährden.

Wie lässt sich gegensteuern?

In den letzten Wochen haben die Kliniken sehr viele der planbaren Eingriffe und Untersuchungen abgesagt, um sich für Corona zu rüsten. Das war richtig und notwendig. Inzwischen ist die Trennung von Corona-Patienten und Patienten mit anderen Erkrankungen in den meisten Krankenhäusern sehr gut organisiert. Es gibt einen neuen Klinikalltag. Deshalb gilt natürlich: ‚Wenn Sie krank sind, gehen Sie zum Arzt oder ins Krankenhaus‘.

Was soll sich in den Krankenhäusern ändern?

Mein Ziel ist, zusammen mit den Länder den Kliniken einen neuen Rahmen für die Versorgung zu geben: Im nächsten Schritt sollten wieder 75 Prozent des Klinikbetriebs für Nicht-Corona-Behandlungen zur Verfügung stehen und 25 Prozent weiterhin für Corona-Patienten bereit- und freigehalten werden. Dringliche Eingriffe können dann wieder stattfinden. Das können Krebsoperationen sein, aber auch Rücken-Operationen bei Patienten mit starken Schmerzen. Die Ärzte können dann vor Ort entscheiden, welchen Patienten sie prioritär wieder Termine anbieten. Wenn wir das Infektionsgeschehen weiter so im Griff behalten, können wir Schritt um Schritt wieder zu einer normaleren Versorgung in den Kliniken kommen.

Bei den Corona-Krisenmanagern gibt es gerade zwei Lager. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet ist für schnellere Lockerungen, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder für strengere Regeln. Sie haben Söders Methode mal „stilbildend“ genannt. Wer macht es besser?

Beide eint dasselbe Ziel: eine Balance zu finden zwischen dem Gesundheitsschutz und den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmerinnen und Unternehmer. Dass es eine Debatte über den Weg zu diesem Ziel gibt, ist normal. Wir dürfen ja nicht vergessen: Wir erleben die größten Einschränkungen unseres Alltags und unserer Freiheiten seit Bestehen der Bundesrepublik. Ich würde mir dann große Sorgen machen, wenn es in dieser Situation keine lebhafte Debatte oder teils unterschiedliche Ansätze gäbe.

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