Lauterbach: Praktischer Nutzen der elektronischen Patientenakte wird überzeugen

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach spricht im Interview mit der Funke Mediengruppe zum Stand der Digitalisierung und nennt Details zu den geplanten Regelungen bei der elektronischen Patientenakte. Außerdem spricht er über die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz im Gesundheitswesen.

24. April 2023

Funke Mediengruppe: Herr Lauterbach, wann waren Sie das letzte Mal beim Arzt? Und wie zufrieden waren Sie mit dem Stand der Digitalisierung?

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: Ich bin sehr häufig bei Ärzten, auch ohne krank zu sein. Das sind Kollegen oder Freunde. Oft werde ich auch um Vermittlung einer Zweitmeinung gebeten. Die meisten erleben heute die Digitalisierung im Gesundheitswesen als Enttäuschung. Die Lage ist komplett unbefriedigend.

Ab 2024 soll sich der Arztbesuch radikal verändern: Jeder Bundesbürger soll eine digitale Patientenakte bekommen. Wer das nicht will, muss ausdrücklich widersprechen. Damit setzen Sie Patienten und Ärzte ziemlich unter Druck.

Ich sehe das anders. Beide Seiten wollen doch von den Vorteilen profitieren. Die Ärztinnen und Ärzte, weil sie besser diagnostizieren und therapieren können, weniger Papierbürokratie. Und auch die Patientinnen und Patienten haben dasselbe Interesse. Sie wollen doch, dass der Arzt ihre Medikamente auf einen Blick so aufeinander abstimmen kann, dass es keine gefährlichen Wechselwirkungen gibt. Sie wollen auch, dass ihre Untersuchungsbefunde schnell vorliegen und dass man sie zu jedem Zeitpunkt abrufen kann. Die Befunde auf dem Smartphone werden gewünscht sein. Der praktische Nutzen der digitalen Patientenakte wird die allermeisten überzeugen.

Blutproben, Röntgenbilder, Ultraschallaufnahmen: Viele Patienten sind genervt von unnötigen Mehrfachuntersuchungen. Können Sie garantieren, dass sich das wirklich ändert?

Die Zahl der unnötigen Doppeluntersuchungen ist jetzt schon zurückgegangen. Das Problem liegt heute woanders: Viele Ärzte ärgern sich darüber, dass zu viel auf Papier dokumentiert wird, dass es keinen zuverlässigen Austausch gibt, dass Labordaten viel zu spät kommen. Und auch darüber, dass sie bei neuen Patienten oft nicht wissen, welche Medikamente und Therapien bereits angewendet wurden. 

Die Patienten sollen selbst entscheiden, wer auf ihre Daten zugreifen darf. Wie soll das genau geregelt werden?

Wenn ich als Patient nicht will, dass mein Zahnarzt sieht, bei welchem Psychotherapeuten ich wegen einer schweren Psychose behandelt werde, muss ich dem Zahnarzt den Zugriff auf diese Daten verweigern können. Das muss unkompliziert möglich sein. Es wird auch möglich sein, den Zugriff generell nicht zu erlauben. Wir werden die Datenschutzregeln so gestalten, dass sie für Patienten und Ärzte im Alltag praktikabel sind. Aber trotzdem muss der Patient Herr seiner Daten bleiben. Die Patientenakte ist und bleibt eine freiwillige Anwendung.

Das heißt, Sie wissen noch nicht genau, wie das funktionieren soll?

Der Datenschutz darf am Ende natürlich nicht dazu führen, dass die Daten erst gar nicht genutzt werden. Wir werden deswegen bei der neuen Digitalagentur ein Gremium einsetzen, das technische, ethische, medizinische und datenschutzrechtliche Aspekte schon im Vorfeld der Planung technischer Lösungen berücksichtigt. Daran werden insbesondere auch der Datenschutzbeauftragte und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik beteiligt sein. Ziel ist, den Datenschutz mit hoher Priorität zu berücksichtigen und das System trotzdem alltagstauglich zu machen. Dafür brauchen wir schnellere Entscheidungen, die sich an den Bedürfnissen von Ärzten und Bürgern orientieren.

Werden alle Möglichkeiten der Datennutzung zum Start bereitstehen?

Wir gehen schrittweise vor: Ab dem 1. Januar 2024 wird das elektronische Rezept verbindlich, ab Herbst 2024 werden wir die weiterentwickelte Patientenakte mit der digitalen Medikationsübersicht in die Umsetzung bringen.

Mal ehrlich, trauen Sie jedem Patienten in Deutschland zu, dass er digital fit genug ist? Ihre eigene Mutter ist 88 Jahre alt...

Wenn sie es nicht kann, würden wir ihr helfen. Patienten profitieren aber auch dann von den Möglichkeiten der digitalen Patientenakte, wenn sie sie nicht selbst bedienen können – einfach, weil man sich als Patient nicht mehr zwingend um Registrierung und Management von Berechtigungen kümmern muss, wenn man das nicht möchte. Im Prinzip muss man nur zu Anfang einmal entscheiden, was einem wichtiger ist: Das minimale Risiko, dass ein Unbefugter die persönlichen Daten aufwändig hackt oder der tägliche Nutzen durch eine bessere medizinische Versorgung. Ich gehe davon aus, dass die allermeisten Ärzte ihren Patienten empfehlen werden, der Patientenakte nicht zu widersprechen.

Wer erklärt den Leuten, wie sie mit der neuen Patientenakte umgehen?

Ärzte und Kassen werden die Patienten informieren und beraten. Und wenn die elektronische Patientenakte für alle startet, machen wir eine bundesweite Aufklärungskampagne.

Was ist mit alten Befunden und Therapien? Kommt auch das zehn Jahre alte Röntgenbild in die Akte?

Wir müssen realistisch bleiben. Es wird kaum möglich sein, die gesamte Krankengeschichte zu digitalisieren. Das ist auch nicht nötig. Wichtige Befunde – vor allem die neuen - müssen aber digitalisiert werden. Das ist Aufgabe der Ärzte sein. Wir werden die Erstbefüllung der Patientenakte zusätzlich honorieren.

Die Patientendaten sollen künftig pseudonymisiert für Wissenschaftler und Pharmaunternehmen bereitgestellt werden. Datenschutzexperten rechnen damit, dass sich bei Patienten mit besonders seltenen Krankheiten schnell Rückschlüsse auf die einzelne Person ziehen lassen…

Patienten mit seltenen Krankheiten sind auf die Nutzung der Daten mehr angewiesen als jeder andere Patient. Weil das bislang nicht möglich ist, haben wir in Deutschland ein riesiges Forschungsdefizit. Das muss sich ändern. Hinzu kommt: Die pseudonymisierten Daten werden nicht herausgegeben. Es ist lediglich die Forschung auf diesen Daten in einer gesicherten Umgebung möglich – und auch das nur auf Antrag mit klarer Darstellung des Forschungszwecks. Klar ist aber auch: Sollte ein Unternehmen einen Patienten rechtswidrig identifizieren, muss das Strafrecht greifen.

Welchen Zugriff haben die Krankenkassen auf die Daten? Müssen Patienten mit bestimmten Risikofaktoren demnächst mit einer Warn-Mail von ihrer Kasse rechnen?

Die Krankenkassen haben nur Zugriff auf die Abrechnungsdaten, aber keinen Zugriff auf die MEDIZINISCHEN Daten der elektronische Patientenakte. Und das wird auch so bleiben. Es könnte dennoch sinnvoll sein, mit Hilfe der digitalen Daten Patienten mit besonderen Risikofaktoren zu identifizieren und dann über drohende Krankheiten zu informieren. Zum Beispiel beim Risiko für Krebs oder Herzinfarkt bei vorhandenen genetischen Risikofaktoren.

Wann kommen die Digitalgesetze ins Kabinett?

Sobald wie möglich. Die beiden Gesetze werden parallel beraten. Ich rechne damit noch vor der Sommerpause.

Um digitale Daten optimal zu nutzen, setzen viele auf Künstliche Intelligenz. Welche Rolle spielt KI in der Patientenversorgung der Zukunft?

Mit Hilfe von „Deep Learning“, also einem sich selbst trainierenden Verfahren zur Erkennung von komplexen Mustern, kann man heute schon zum Beispiel die Vorstufen von Hautkrebs frühzeitig erkennen. Es gibt auch KI, die mittels Blutanalyse die Risikofaktoren für chronische Erkrankungen ermitteln kann. Künstliche Intelligenz kann manchmal besser sein als ein geübter Facharzt. Die besten Ergebnisse erzielt aber die Kombination aus einem künstlichen und einem Arzt. Hier geht die Forschung gerade schnell voran.

Was ist mit generativer KI, mit Systemen, die auf Fragen antworten, wie etwa ChatGPT?

Generative KI-Systeme wie ChatGPT sind unfassbar vielseitig. Sie werden in der Lage sein, auf Basis von Gesundheitsdaten medizinische Befunde zu entwickeln. Sie werden sogar auf der Grundlage von bestehenden Befunden eine Diagnose stellen können oder Prognose schätzen zu können. Und sie werden in der Lage sein, im Vergleich mit einem riesigen, aber anonymen Patientenkollektiv Therapien theoretisch durchzuspielen und Fragen zu beantworten wie: Wie wahrscheinlich ist es, dass dieses Medikament bei diesem konkreten Patienten anschlägt? Hier eröffnen sich gerade ganz neue Möglichkeiten.

Die Erstdiagnose in der Notaufnahme übernimmt dann künftig die KI?

Darüber will ich nicht spekulieren. Aber es gibt ja jetzt schon Programme, in die man Befunde eingibt und die dann die wahrscheinliche Diagnose nennen. Demnächst könnten dann wie bei ChatGPT auch neueste Studienergebnisse und andere Informationen einfließen. Ich gehe davon aus: Es wird bald Programme geben, bei denen ein Patient Symptome, Befunde und bisherige Behandlungen mündlich erklärt und dann von der KI eine Einschätzung seiner Krankheit und sogar mögliche Therapievorschläge bekommt.

Darin liegt auch eine Gefahr. Wer garantiert mir, dass die KI keine lebensgefährlichen Fehldiagnosen liefert?

Wir müssen die Anwendung von KI-Systemen wie ChatGPT im Gesundheitsbereich unbedingt regulieren. Sie müssen geprüft werden und zuverlässig sein. Wir müssen zudem sicherstellen, dass die Daten nicht missbraucht werden können. Es darf nicht sein, dass wir die Daten deutscher Patienten im Rahmen der digitalen Patientenakte perfekt schützen, die gleichen Daten aber von amerikanischen Firmen mit Hilfe kommerzieller KI-Chat-Anwendungen benutzt und möglicherweise missbraucht werden. Es wäre mir daher lieber, dass wir in Deutschland die KI-Forschung stärker selbst in die Hand nehmen.

Wie wollen sie ChatGPT im Gesundheitsbereich regulieren?

Wir müssen uns vor allem beeilen: ChatGPT und andere KI Bots sind wahrscheinlich extrem attraktiv für Patienten, wenn diese Anwendungen entwickelt sind. Viele werden das nutzen wollen. Meine Sorge ist, dass sich auf diese Weise im Netz ein wildes Angebot entwickelt, das komplett unreguliert ist. Da sehe ich Handlungsbedarf.

 Pflege-Roboter, KI-gesteuerte Stofftiere für Demenzkranke: Wird das in Deutschland zum Standard?

 Es kommt auf den Nutzen an. Der humanoide Roboter, der die alte Dame mit Demenz unterhält - das sind keine wertvollen Entwicklungen. Es würde dagegen mehr helfen, wenn das W-Lan in allen Pflegeeinrichtungen so gut funktionierte, dass man überhaupt mit digitalen Daten arbeiten kann.

Digitale Gesundheitsanwendungen sind ein wachsender Markt. Nutzt Deutschland das Potential?

Wir sind gut unterwegs. Wir dürfen uns aber nicht in falscher Sicherheit wägen. Die USA, China, Kanada, Israel und Großbritannien preschen voran und können Deutschland schnell abhängen. Bei den Investitionen in KI fallen wir jetzt schon deutlich zurück: Nur etwa ein Prozent der weltweiten Investitionen in KI landen in Deutschland. Der Trend wird sich erst umkehren, wenn wir eine international wettbewerbsfähige Dateninfrastruktur haben und den Rechtsrahmen, der sowohl der universitären als auch der privaten Forschung den Zugang zu diesen Daten ermöglicht. Dafür müssen wir sorgen.

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