Warken: „Wir wollen das Primärarztsystem einführen.“

Der Hausarzt soll erste Anlaufstelle sein und sicherstellen, dass Patienten innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens einen Termin beim Facharzt bekommen. Über dieses Vorhaben und den Reformbedarf bei der Pflege- und Krankenversicherung sprach Bundesgesundheitsministerin Nina Warken mit der Funke Mediengruppe.

26. Juli 2025

Funke Mediengruppe: Frau Warken, Deutschland liegt mit knapp zehn Arzt-Patienten-Kontakten pro Jahr deutlich über dem Durchschnitt der Industrienationen. Gehen die Deutschen zu oft zum Arzt? 

Bundesgesundheitsministerin Nina Warken:Sie gehen auf jeden Fall häufiger zum Arzt als die Menschen in anderen Ländern. Das führt allerdings nicht dazu, dass sie deswegen unbedingt gesünder sind oder länger leben. Deswegen brauchen wir mehr Steuerung, um unnötige Arztbesuche zu vermeiden und um Patienten, die darauf dringend angewiesen sind, schnellere Termine bei Haus- und Fachärzten zu verschaffen.

Sollte es bei der Terminvergabe egal sein, ob man privat oder gesetzlich versichert ist? 

Bei der Terminvergabe darf es keinen Unterschied machen, ob jemand privat oder gesetzlich versichert ist.  

Aber in der Realität ist es so…

Deshalb wollen wir das Primärarztsystem einführen. Der Hausarzt soll erste Anlaufstelle sein und sicherstellen, dass Patienten innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens einen Termin beim Facharzt bekommen. 

Eine Praxis- oder Kontaktgebühr lehnen Sie ab? 

Es gibt viele Möglichkeiten, Praxisbesuche so zu steuern, dass die Patienten weiterhin gut versorgt werden, ohne sie unnötig finanziell zu belasten. Am Ende muss eine Reform stehen, die das gute Versorgungsniveau aufrechterhält, aber trotzdem Stabilität bei den Beiträgen ermöglicht. Der dafür zuständigen Reformkommission werde ich mit auf den Weg geben, dass es bei ihrer Arbeit keine Denkverbote gibt.

Die Haushaltsverhandlungen stehen bevor. Dabei werden die drei Sozialversicherungssysteme nicht gleichbehandelt. Die Rente wird mit Milliarden an Steuergeld gestützt, für Kranken- und Pflegeversicherung bleiben nur Darlehen. Sind Sie damit zufrieden? 

Mit den aktuellen Haushaltsansätzen ist zu befürchten, dass im neuen Jahr die Beiträge sowohl in der gesetzlichen Krankenversicherung als auch in der Pflegeversicherung steigen werden. Beiträge stabil zu halten, ist aber Koalitionsziel – und das nicht nur bei der Rente. Und es ist eine Frage der Fairness. Wir können nicht das Rentensystem mit Steuermilliarden über Jahrzehnte stabilisieren und gleichzeitig die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung mit Darlehen abspeisen, ohne dasselbe Ziel zu erreichen. Diese Sozialversicherungen verdienen mehr Haushaltsmittel, auch um die Zeit zu überbrücken , bis strukturelle Reformen greifen können.

Mit welchen Argumenten wollen Sie Geld locker machen? 

Eine Sozialversicherung braucht Akzeptanz, um zu funktionieren. Jede Beitragssatzsteigerung bei stagnierenden oder sogar nicht ausreichenden Leistungen nagt daran. Und wir müssen die Wirtschaft entlasten. Wir wollen die Unternehmen und deren Wettbewerbsfähigkeit stärken. Dem widersprechen steigende Sozialabgaben. Mit dieser Argumentation gehe ich in die weiteren Gespräche.

An welchen Stellen muss das Gesundheitssystem effizienter werden? 

Wir müssen dafür sorgen, dass wir mit begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen den steigenden Behandlungsbedarf einer älter werdenden Gesellschaft erfüllen. Das heißt: Die Gesundheitsversorgung muss digitaler werden. Sie muss gleichermaßen erreichbar sein, aber sich auf notwendige Standorte konzentrieren – etwa in der Krankenhausversorgung. Und wir müssen Bürokratie abbauen. Ärzten und Apothekern geht sehr viel Zeit verloren, weil zu viel dokumentiert werden muss. Mit weniger Formalien bleibt mehr Zeit für Patientinnen und Patienten. Dann wird die Versorgung besser und man kann vielleicht sogar den einen oder anderen weiteren Arztbesuch einsparen.

Eine Kommission soll Reformen für die gesetzliche Krankenversicherung entwickeln. Ist es das Ziel, dass Beiträge auch mal wieder sinken? 

Wir haben seit Jahren Ausgaben, die stärker steigen als die Einnahmen, deshalb steigen die Beiträge. Es in die andere Richtung zu drehen, wäre natürlich noch besser. Aber das erste Ziel ist zunächst einmal Beitragsstabilität.

Der Bundeskanzler hat angekündigt, bei der Reform auch über das Leistungsniveau sprechen zu wollen. Wie stehen Sie zu etwaigen Leistungskürzungen? 

Ich stehe dafür, dass wir die Menschen nicht noch stärker bei den Beiträgen belasten, die Lage der Krankenkassen stabilisieren, aber gleichzeitig auch das Leistungsversprechen einhalten. Das ist Ziel unserer Reformen. Dennoch kann ich wiederholen, dass es keine Denkverbote gibt.

Wo könnte die Eigenverantwortung bei den Versicherten steigen?

Vor allem bei der Prävention. Mehr Eigenverantwortung heißt, sich gesund zu ernähren, sich ausreichend zu bewegen und Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen. Dafür müssen wir die Menschen noch stärker sensibilisieren.

Pharma-Hersteller gelten als Gewinner im Gesundheitssystem. Müssen sie mit den Preisen runter? 

Deutschland ist darauf angewiesen, weiterhin ein starker Pharma-Standort zu sein. Zur Widerstandsfähigkeit eines Landes gehört auch, im Inland eine gute Versorgung zu haben. Gleichzeitig gilt: Alles, was hilft, das System zu stabilisieren, werden wir in den Blick nehmen. Da müssen alle Beteiligten ihren Beitrag leisten, ohne Ausnahme..

Sollte die Zahl der Krankenkassen reduziert werden? 

Weniger Krankenkassen sind möglich, ohne die Funktionsfähigkeit des Systems zu gefährden. Einsparen würden wir dadurch allerdings relativ wenig. Die Versicherten wissen aber generell Verschlankung von Verwaltungsausgaben zu schätzen – unabhängig von der Anzahl der Krankenkassen.

Bei der Pflegeversicherung sind zuletzt die Eigenanteile für Heimbewohner im Schnitt auf über 3000 Euro pro Monat gestiegen. Wie wollen Sie eine Überlastung der Versicherten vermeiden? 

Mein Ziel ist, den rasanten Anstieg der Eigenanteile zu stoppen. Vor allem die Kosten der Unterbringung sind teurer geworden, ebenso das Bauen. Letzteres ist eigentlich Aufgabe der Bundesländer. Aber zu häufig werden Investitionskosten auf Bewohnerinnen und Bewohner abgewälzt. Außerdem sind die Auflagen fürs Bauen von Heimen häufig zu streng. Hier müssen die Länder ihre Vorschriften und Standards überprüfen. Im neuen Pflegekompetenzgesetz wollen wir zudem die Möglichkeit neuer Wohnformen fördern. Wir müssen weg von zu starren Vorgaben und hin zu bezahlbareren Angeboten. 

Muss man die Pflegeversicherung generell neu denken?

Die Pflegeversicherung ist eine große Errungenschaft. Mittlerweile klaffen Einnahmen und Ausgaben aber eklatant auseinander. So kann es nicht weitergehen. Jetzt geht es darum, das System zukunftsfähig zu machen. 

Wie? 

Da gibt es klare Arbeitsaufträge an die Kommission. Ende des Jahres rechne ich mit den Ergebnissen. . 

Kommt die Pflicht, private Pflegevorsorge zu treffen – und wie sollte sie ausgestaltet werden? 

Die private Vorsorge sollte eine größere Rolle spielen. Die Pflegeversicherung wird auch in Zukunft nur einen Teil der Kosten abdecken können. 

Mit Blick auf die Kliniken im Land befindet sich die überarbeitete Krankenhausreform auf der Zielgeraden. Welche Verbesserungen kommen jetzt für Patientinnen und Patienten? 

Die Behandlungsqualität verbessert sich. Leistungen sollen nur in Kliniken angeboten werden, in denen es auch ausreichend Fachärzte gibt. Gleichzeitig dürfen keine Versorgungslücken auf dem Land entstehen. Dafür sieht die überarbeitete Reform nun mehr Spielräume für die Bundesländer vor, die bei bedarfsnotwendigen Klinken Ausnahmen machen können. Patientinnen und Patienten sollen sich darauf verlassen können, dass sie bei kleineren Gesundheitsbeschwerden und im Notfall in der Nähe ihres Wohnorts, sowie bei komplizierteren OPs in Spezialkliniken gut und schnell versorgt werden.

Wie viele kleinere Kliniken müssen schließen? 

Das kann man so pauschal nicht sagen. Es werden Kliniken schließen. Aber das müssten nicht wenige auch ohne Reform. Unser Ziel ist, diesen Prozess so zu steuern, dass am Ende eine gute Versorgung erhalten bleibt. Viele Kliniken haben sich aber ohnehin schon auf diesen Weg gemacht, den Transformationsprozess zu gestalten und zum Beispiel damit begonnen, Standorte zu bündeln. Die Reform wird ihre Wirkung entfalten. Das planen jetzt die Länder.

Sind Sie den Ländern zu weit entgegenkommen, sodass die Reform möglicherweise verpufft? 

Nein, wir haben aber sinnvolle und praxisnahe Umsetzungsbedenken ernstgenommen. Das hat natürlich Grenzen. Sonst verliert die Reform ihre Wirkung. Aber ich denke, wir haben jetzt einen guten Weg gefunden.

Im Koalitionsvertrag ist zur Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen eine „Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus“ vereinbart. Wie könnte eine konkrete Regelung aussehen? 

Es besteht bereits jetzt die Möglichkeit einer Kostenübernahme , wenn die Indikation dafür gegeben ist oder die Kosten eines Abbruchs die Schwangere überfordern. Denkbar ist, dafür die derzeit geltende Einkommensgrenze anzuheben. Dafür muss der Abtreibungsparagraf 218 nicht geändert werden.

Sehen Sie darin – so wie einige Experten – eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in der Frühphase? 

Nein. Das ist damit sicherlich nicht gemeint.

Wie stehen Sie persönlich zu den Ansichten der Verfassungsgerichtskandidatin Frauke Brosius-Gersdorf? 

Ich beteilige mich nicht an dem Versuch, einzelne inhaltliche Positionierungen eventueller Kandidaten für das Verfassungsgericht einzuordnen und sich anzuschließen oder diese abzulehnen. Aber mit Blick auf den Zeitpunkt des vollständigen Schutzes der Menschenwürde vor Geburt bin ich anderer Meinung.

Wie könnte dieser koalitionsinterne Streit gelöst werden? 

Wir sind gut beraten, jetzt einmal Ruhe einkehren zu lassen. Daran müssen sich aber auch alle Seiten halten. Es bringt nichts, dazu jeden Tag neue Kommentare abzugeben.

Wie viel Aufwand betreibt Ihr Haus derzeit noch für die Bewältigung der Folgen der Maskenbeschaffung durch den früheren Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU)?

Wir machen das, was die letzten dreieinhalb Jahre hier nicht gemacht worden ist und arbeiten die Corona-Pandemie auf. Da ist viel liegen geblieben. Das gehen wir jetzt an – auch zur Vorbereitung auf künftige pandemische Ereignisse.

Wer hat Ihnen geraten, den Bericht der Sonderermittlerin zu schwärzen? 

Insgesamt sind die Schwärzungen sehr moderat. Die Schwärzungen mussten in erster Linie vorgenommen werden, um Persönlichkeitsrechte, Geschäftsgeheimnisse und die Interessen des Bundes zu schützen. Es laufen derzeit noch Prozesse und da ist es schlecht, Dinge preiszugeben, die vielleicht der Gegenseite helfen. Übrigens, dieser Bericht wurde mir bereits als „Verschlusssache“ vorgelegt, was deutlich macht, dass auch ich als Ministerin nicht freizügig damit umgehen darf.

Wie viel Steuergeld steht bei den Prozessen noch im Feuer? 

Bis ins Detail lässt sich das kaum sagen. Das Open-House-Verfahren wird am stärksten beklagt. Hier liegt der Streitwert über 2 Mrd. Euro. Die Fälle sind zum Teil in den Details unterschiedlich gelagert. Das sieht man auch an den bisherigen Entscheidungen, die nicht einheitlich sind. Höchstrichterliche Entscheidungen liegen noch nicht vor, weshalb es sich verbietet hier zu spekulieren.

Der Bundesdrogenbeauftragte Hendrik Streeck (CDU) will den Alkoholverkauf im Kassenbereich der Supermärkte einschränken und den Bierverkauf an Tankstellen verbieten. Vorstellbar? 

Da sehe ich rechtliche Schwierigkeiten. Wir sollten nicht als erstes über Verbote nachdenken, sondern uns auf das Machbare konzentrieren. Dabei liegt mein Fokus auf dem Kinder- und Jugendschutz. Zunächst sollten wir das begleitete Trinken untersagen und dann das Thema Cannabis im Blick behalten. 

Sie halten das Cannabis-Gesetz nach wie vor für einen Fehler? 

Meine Position hat sich nicht geändert. Ich habe es für einen Fehler gehalten, dieses Gesetz so einzuführen. Wir haben aber einen Koalitionsvertrag. Darin ist zunächst eine Evaluierung festgehalten. Daran halte ich mich. Die Legalisierung hat sicherlich nicht zu weniger Konsum geführt. Und auch die Strafverfolgungsbehörden zeichnen ein schwieriges Bild. Wir haben da mehr Probleme geschaffen als gelöst. Es besteht Handlungsbedarf. 

Nur ein Bruchteil der Versicherten nutzt die Elektronische Patientenakte (EPA) aktiv. Wird sie zum teuren Flop? 

Nein. Die elektronische Patientenakte wird von Einigen schon schlecht geredet, bevor sie überhaupt richtig eingeführt ist. Die ePA wird schrittweise gestartet. Erst ab Oktober besteht für Ärzte die Pflicht, sie zu befüllen, ab Januar kann man dann auch Sanktionen verhängen. Das heißt: Erst dann können Patienten erwarten, dass Ärzte mit der ePA arbeiten. Und einen Nutzen hat die Patientenakte, selbst wenn Patienten da nie reinschauen. Sein Arzt kann ihn aber besser behandeln. Beim Blick in die Akte sieht er die Krankengeschichte, die Medikamente, die jemand. Das hilft bei der Therapie. Ich bin mir sicher, dass uns die ePA in der Gesundheitsversorgung einen großen Schritt voranbringen wird. Jetzt eine negative Bilanz zu ziehen, ist nicht gerechtfertigt. 

Online-Versandapotheken bieten Boni und Rabatte auf die Bestellung rezeptpflichtiger Medikamente an. Halten Sie das für richtig? 

Nein. Ich halte das für falsch. Die Arzneimittelversorgung darf nicht von Rabattversprechen abhängen. Und auch die Apotheken vor Ort dürfen nicht darunter leiden. Die wohnortnahe, persönliche Abgabe von Arzneimitteln muss weiterhin für alle Patienten sichergestellt bleiben. Deswegen werde ich alles dafür tun, gleiche Bedingungen zwischen Versandhandel und stationären Apotheken zu erhalten. 

Ihr Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) lebt salzfrei. Gibt es auch bei Ihnen eine goldene Gesundheitsregel? 

Ich versuche, frisch zu kochen, mich gut zu ernähren und mich ausreichend zu bewegen. Leider sind es nicht immer 10.000 Schritte, die ich am Tag schaffe. Zumindest an Bürotagen ist das schwierig.

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