Warken: "Es führt kein Weg an mutigen Reformen vorbei."
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken spricht mit der Rheinischen Post über die große gesellschaftliche Herausforderung, die Sozialsysteme insgesamt zukunftsfest zu machen. Dabei geht es u. a. um die aktuelle Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung, das geplante Sparpaket der Bundesregierung sowie die anstehenden Strukturreformen in Kranken- und Pflegeversicherung.
RP: Frau Ministerin, behaupten Sie weiterhin, dass die Beiträge für Krankenversicherte 2026 stabil bleiben?
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken: Ich habe immer gesagt, dass wir unseren Beitrag leisten, um die bestehende Finanzlücke der Krankenkassen zu schließen.
Das klingt anders als zuletzt. Da haben Sie die Beitragsstabilität stets in Aussicht gestellt.
Dabei bleibe ich auch. Wenn es gelingt, das Sparpaket der Bundesregierung am Freitag im Bundesrat zu verabschieden, haben wir erreicht, dass die Festlegung des durchschnittlichen Zusatzbeitrags auf dem heutigen Niveau von 2,9 Prozent Bestand hat. Das ist die Richtschnur für uns gewesen, die wir direkt beeinflussen können. Die Berechnung des durchschnittlichen Zusatzbeitrags erfolgen ja nicht durch das Bundesministerium für Gesundheit alleine, sondern durch den sogenannten Schätzerkreis, indem etwa auch Experten der Krankenkassen vertreten sind
Die Kassen kritisieren, dass Ihr Sparpaket lange nicht reicht und erhöhen die Beiträge. Was kommt denn nun auf die Menschen zu?
Richtig ist, dass es nun im Ermessen der einzelnen Kassen liegt, ob sie ihre Zusatzbeiträge erhöhen werden oder nicht. Es gibt ja bereits Kassen, die diese Entscheidung getroffen haben. Das bisherige Bild zeigt jedoch, dass zahlreiche Kassen ihre Beiträge nicht erhöhen müssen. Ich verstehe natürlich, dass die Kassen höhere Einsparungen wollen und die kommen ja auch. Wir haben jetzt zur kurzfristigen Finanzstabilisierung Maßnahmen auf den Weg gebracht. Im kommenden Jahr wird das Defizit der Kassen deutlich höher sein, weswegen ein umfassendes Paket erarbeitet wird. Gleichzeitig werden wir tiefgreifende Strukturreformen auf den Weg bringen, so wie wir es immer angekündigt haben. Ohne unsere Maßnahmen in diesem Jahr zur Stabilisierung der Kassenfinanzen hätten wir den durchschnittlichen Zusatzbeitrag um 0,3 Prozent erhöhen müssen.
Haben Sie es in der Beitragsdebatte vergessen zu erwähnen, dass die Kassen zusätzlich ihre Rücklagen auffüllen und daher auch an der Beitragsschraube drehen müssen?
Ich habe das stets in die Diskussion eingebracht. Denn tatsächlich wurden insbesondere im vergangenen Jahr die Kassenrücklagen massiv abgeschmolzen und entsprachen nicht einmal mehr der Hälfte der gesetzlich vorgesehenen Mindestreserve. Diese Entwicklung hat sich abgezeichnet und wurde teilweise sogar noch verschärft, es wurde aber nicht politisch gegengesteuert. Ich habe ein System in tiefroten Zahlen geerbt und muss jetzt wieder für schwarze Zahlen sorgen.
Die Kassen machen ernst und haben eine Klagewelle gegen den Bund wegen der Bürgergeldkosten losgetreten. Warten Sie die Urteile ab? Oder werden Sie vorher für Entlastungen sorgen an der Stelle?
Ich rechne nicht mit schnellen Entscheidungen der Gerichte. Daher können und wollen wir nicht auf die Urteile warten. Ich habe immer gesagt, dass im Rahmen der GKV-Reform auch die Bürgergeldfrage auf den Tisch gehört. Wir reden immerhin über zehn Milliarden Euro pro Jahr, die die Kassen stemmen. Gleichzeitig können wir die angespannte Haushaltslage nicht ignorieren.
Schauen wir auf die kommende Woche: Werden Sie sich mit den Ländern einigen können, sodass der Bundesrat das Sparpaket der Koalition verabschieden wird?
Wir sind in guten Gesprächen. Ich bin zuversichtlich, dass wir eine Lösung finden. Der Vermittlungsausschuss wird am 17. Dezember zusammenkommen, zwei Tage vor dem Bundesrat. Dann gilt es. Alle Beteiligten wissen, dass die Zeit knapp ist, damit das Sparpaket ab dem 1. Januar in Kraft treten kann.
Was bieten Sie den Ländern an?
Dazu kann ich nichts sagen. Die Gespräche verlaufen vertraulich, daran halte ich mich.
Was geschieht, wenn es keine Lösung gibt und das Paket scheitert?
Dann fehlt das Geld den Kassen und sie werden ihre Entscheidungen zu den Zusatzbeiträgen womöglich noch einmal überdenken müssen. Es geht da jetzt für die Versicherten wirklich um sehr viel. Unabhängig von den Kassenbeiträgen beinhaltet das Gesetz viele wichtige Regelungen – insbesondere für Pflegekräfte. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Länder dieser Verantwortung auch bewusst sind und wir in diesem Sinne an einer gemeinsamen Lösung arbeiten.
Schauen wir auf die Strukturreformen im kommenden Jahr: 2026 stehen diverse Landtagswahlen in politisch unruhigen Zeiten an. Dennoch sagen Sie hier und heute zu, dass es zu mutigen Strukturreformen kommen wird, selbst wenn sie den Wählern an der einen oder anderen Stelle wehtun sollten?
Es führt einfach kein Weg an mutigen Reformen vorbei. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen sehr genau wissen, dass der Staat sich in vielen Bereichen neu aufstellen muss. Es geht darum, die Sozialsysteme insgesamt zukunftsfest zu machen. Wir wollen das Solidarversprechen weiterhin sichern, das ist eine große Herausforderung. Die Menschen sind bereit, diese Reformen mitzugehen, wenn es einen nachvollziehbaren Weg gibt und der Staat handelt.
Die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe für eine Pflegereform sind auf harsche Kritik gestoßen. Man wirft Ihnen vor, Monate verschwendet und ein Papier ohne konkrete Reformkonzepte vorgelegt zu haben. Was erwidern Sie?
Die Arbeitsgruppe hatte den Auftrag, Grundlagen für eine Reform zu erarbeiten, auf deren Basis wir den Gesetzgebungsprozess einleiten können. Das hat sie getan. Die Fachebenen von Bund und Ländern haben ja umfassende Optionen erarbeitet, die scheinen etwas aus dem Blick zu geraten. An einigen Stellen haben wir auch Konkretes vereinbart, etwa den Schwerpunkt Prävention zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit oder die Überprüfung der Begutachtungssystematik zur Einstufung in die Pflegegrade. Jetzt geht es darum, in Abstimmung mit der von mir eingesetzten GKV-Finanzkommission und anderen zu einem umfangreichen Reformkatalog zu kommen. Die Maßnahmen hängen alle zusammen. Stückwerk wäre fatal.
Sie hätten doch aber im Pflege-Ergebnispapier bereits Finanzierungsideen bringen können.
Die Erwartung an die Kommissionsergebnisse ist an dieser Stelle wahrscheinlich zu groß gewesen. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass in einer Arbeitsgruppe mit Bund, Ländern und Kommunen niemand freiwillig aufzeigt, wenn es um Kostenübernahmen geht, beispielsweise für die Deckelung des Pflegeeigenanteils. Deswegen gibt es jetzt ein Papier mit Optionen, die eine gute Basis für die Pflegereform sind. Politische Einigungen dieser Tragweite sind anhand von konkreten Gesetztestexten zu treffen.
Wollen Sie denn beispielsweise für die Gegenfinanzierung, dass künftig Gutverdiener mehr bezahlen müssen, indem die Lohngrenze, auf die man Pflegebeiträge zahlen muss, von 5500 auf 8000 Euro steigt?
Mein Politisches Ziel ist es, Mehrbelastungen zu vermeiden. Deshalb bevorzuge ich andere Ansätze. Mir ist die Position des Koalitionspartners natürlich bekannt. Wir werden in den anstehenden Gesprächen auch darüber sprechen und schauen, wie wir für die Finanzierung insgesamt eine gute Lösung finden.
Bis wann werden Sie den Gesetzentwurf für die Pflegereform vorlegen?
Die geplante Pflegereform muss zum 1. Januar 2027 in Kraft treten. Um das sicher zu erreichen, werde ich bis zur Sommerpause 2026 einen Entwurf für die Pflege vorlegen.
Darlehen sollen dafür sorgen, dass die Pflegebeiträge nicht explodieren. Aber Hand aufs Herz: Werden diese Darlehen in Milliardenhöhe jemals zurückgezahlt werden können?
Darlehen sind zurückzuzahlen und das gilt hier auch. Natürlich ist das die klare Erwartung des Bundes. Das muss in die Finanzierung der Pflegeversicherung eingepreist werden für die nächste Zeit. Der Anspruch muss sein, dass die Pflegeversicherung künftig unabhängig von kurzfristigen Maßnahmen aus dem Bundeshaushalt finanzierbar bleibt.
Blockiert Finanzminister Lars Klingbeil Ihre Pläne?
Jede Ministerin und jeder Minister hat seine Aufgaben. Der Finanzminister ist verantwortlich für einen stabilen Haushalt in schwierigen Zeiten. Ich habe große Herausforderungen in meiner Zuständigkeit, die teilweise auch den Haushalt betreffen. Hier müssen wir zu guten Lösungen kommen, jeder in seiner Rolle aber beide mit einem zielorientierten Ansatz.
Klingt unvereinbar…
Manchmal ist es auch anstrengend. Im Ziel sind wir uns aber einig, daher besteht kein Grund zur Sorge.
Was halten Sie von der Debatte, dass man bei Hochbetagten nicht mehr jeden Eingriff machen muss, um Kosten zu sparen und verlängertes Leid zu verhindern?
Solche sehr ethischen Fragen sollten Patienten und Angehörige mit den Ärzten individuell klären. Wir sollten uns als Vertreter des Staates da jetzt nicht hinstellen und versuchen zu bewerten, welche Behandlung medizinisch oder finanziell noch Sinn macht. Das kann ich nicht und das will ich auch nicht.
Der Bundeskanzler ist in die Kritik geraten, weil er von der geringeren Vergütung von Hebammen noch nichts gehört hatte, als er jüngst in einer Fernsehsendung darauf angesprochen wurde. Ist der gemeinte Hebammenhilfevertrag ein Fehler?
Ich finde die Kritik an Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) ungerechtfertigt, weil die Bundesregierung gar nicht unmittelbar in die Hebammen- eingreifen kann.. Die Vergütung wird zwischen den Kassen und den Hebammenverbänden verhandelt. Grundsätzlich verhandelt die Selbstverwaltung aus guten Gründen die Vergütung für alle Leistungsbereiche im Gesundheitswesen. Die Politik sollte nicht über diese Vergütung entscheiden.
Aber Sie sorgen ja für die Rahmenbedingungen. Erkennen Sie ein Problem in der Vergütung dieses wichtigen Berufsstandes?
Selbstverständlich treibt es mich um, dass wir ausreichend viele und ordentlich bezahlte Hebammen in Deutschland brauchen. Ich habe auch mit beiden Seiten mehrere Gespräche geführt. Der nun gültige Vertrag ist Ergebnis eines Schiedsspruchs. Dieser beinhaltet, dass beide Seiten in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe auf Basis der aktuellsten Daten die Auswirkungen des Vertrags bewerten und falls erforderlich unverzüglich Verhandlungen zur Weiterentwicklung des Vergütungssystems aufnehmen. Ich gehe fest davon aus, dass sich alle Beteiligten der Verantwortung bewusst sind.
Im Netz wird viel über das Problem der „Gender Health Gap“ diskutiert. Also der unterschiedlichen Bewertung von Männergesundheit und Frauengesundheit. Sehen Sie diese Diskrepanz auch?
Ja, ohne Zweifel. Es gibt eine im Vergleich zu Männern teilweise ungerechte Behandlung von Frauen in der Medizin. Es ist erschreckend, dass es erst seit wenigen Jahren Bedürfnisse von Frauen in klinischen Studien berücksichtigt werden. Frauen leiden unter anderen Symptomen als Männer, etwa bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Medikamente wirken im weiblichen Körper anders als im männlichen. All das wird auch noch viel zu wenig im Medizinstudium und in der ärztlichen Ausbildung berücksichtigt. Wir müssen diese Wissenslücke schnellstmöglich schließen.
Was tun Sie dafür?
In meinem Ministerium gibt es einen Fördertopf mit 11,5 Millionen Euro bis 2029, um Forschungsvorhaben für eine bessere Versorgung von Frauen voranzutreiben. Weitere Mittel stehen im Forschungsministerium von Dorothee Bär zur Verfügung, um Forschungsprojekte zu fördern. Mir geht es aber auch politisch darum, typisch weibliche Erkrankungen oder Einschränkungen etwa durch Regelschmerzen,die Folgen von Endometriose oder der Menopause zu adressieren.
In Spanien dürfen Frauen bei starken Regelschmerzen „Menstruationsurlaub“ nehmen. Sollte es so etwas auch in Deutschland geben?
Es wäre schon viel gewonnen, wenn Führungskräfte für dieses Thema sensibilisiert würden und Frauen sich während ihrer teils heftigen Beschwerden nicht zusätzlich unter Druck gesetzt fühlten. Denn das führt häufig dazu, dass Frauen sich erst recht für eine Teilzeit- statt Vollzeitbeschäftigung entscheiden. Das kann aber nicht die Antwort sein. Deshalb habe ich einen Dialogprozess gestartet, in dem alle Seiten einbezogen werden, um dieses Thema sehr offen zu besprechen.