Spahn: "In dieser Pandemie gibt es keine absoluten Wahrheiten."

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zum Umgang mit persönlichen Anfeindungen und Unverständnis in der Corona-Pandemie sowie zu den Aussichten auf einen baldigen Impfstoff

FOCUS Online: Bei ihrem Amtsantritt als Gesundheitsminister schien es, als hätten Sie ein ganz normales Ressort erwischt: viel Streit ums Geld, aber ansonsten nicht übermäßig stressig. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie sind Sie einer der obersten Krisenmanager des Landes. Sie wurden zuletzt bei mehreren Demos beschimpft, angespuckt und als „Massenmörder“ oder „schwule Sau“ tituliert. Denken Sie manchmal „Warum tu‘ ich mir das überhaupt an?“

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Nein. Keine Sekunde. Zumal solche Reaktionen nicht die Regel, sondern die absolute Ausnahme sind.

Woher kommt diese geballte Wut bei einigen Menschen?

Spahn: Diese Frage stelle ich mir auch. Und ich habe darauf noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden. Widerspruch ist in einer Demokratie nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht. Wir haben Maßnahmen beschlossen, die das öffentliche Leben und die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger massiv beschränken. Unternehmer stehen deswegen vor existenziellen wirtschaftlichen Problemen. Eltern haben Sorge, dass ihre Kinder vernünftig betreut werden.

Vielen verhagelt Corona den Urlaub oder das Familienfest. Und manche konnten nicht einmal ihre pflegebedürftigen Verwandten besuchen. Das sind tiefe Einschnitte in den persönlichen Alltag, natürlich gibt es da Kritik. Ich verstehe auch vollkommen, dass mit dem Wissen von heute die Entscheidungen von vorgestern hinterfragt werden. Auch das ist normal.

Sie sind nicht dafür bekannt, dass Sie etwas gegen Auseinandersetzungen hätten.

Spahn: Allerdings sind solche Auseinandersetzungen etwas anderes als blanker Hass. Bei einer kleinen, aber sehr lauten und aggressiven Minderheit gibt es überhaupt keinen Willen zum echten Gespräch, keine Offenheit, einander zu verstehen. Einige Verschwörungs-Narrative haben fast sektiererische Züge. Da wird Diskutieren schwierig.

Was können Sie als Politiker da überhaupt tun? Oder sind Sie hilflos? Winken Sie da gleich ab?

Spahn: Bei einigen Wahlkampfterminen in Nordrhein-Westfalen habe ich es versucht. Und bei den allermeistern gibt es dann auch die Bereitschaft zum Gespräch. Bei einigen aber ist es sinnlos. Ich frage mich: Was ist passiert, dass diese Menschen so frustriert sind? Und warum vergleichen sie ihre Situation bei uns nicht mit der von den Menschen in anderen Ländern? Dort schaut man mit Hochachtung auf das, was wir alle zusammen in Deutschland in Corona-Zeiten geschafft haben. Deswegen sollten wir nicht übermütig werden. Aber wir können schon ein wenig stolz sein.

Fast alle Spitzenpolitiker sind solchen Attacken ausgesetzt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schallten vor fünf Jahren überall, wo sie auftrat, „Hau-ab-Rufe“ entgegen. Wie ist das, tauschen Sie sich im Kabinett aus über den Umgang mit solchen Leuten?

Spahn: Ich habe viel Zuspruch bekommen. Nicht nur von Parteikollegen. Wir alle merken ja, dass in den letzten Jahren die Hemmschwellen bei einigen gesunken sind. Es bleibt auch nicht nur bei aggressiven Worten. Viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister kennen das. Als Bundesminister steigen Sie irgendwann ins Auto und fahren wieder nach Berlin. Jemand, der vor Ort Verantwortung trägt, kann das nicht, der ist im Sinne des Wortes immer direkt greifbar. Manche werden sogar gewalttätig angegriffen. Denken Sie an die Messerangriffe gegen die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) oder gegen Andreas Hollstein (CDU), den Bürgermeister von Altena.

Neben den Verschwörungsphantasten gibt es ja auch Menschen, die die heutigen Regeln ablehnen oder einfach unlogisch finden. Und unlogische Regeln einzuhalten erscheint ihnen als blinder Autoritätsglaube.

Spahn: Deswegen müssen wir immer wieder klarmachen, dass es in dieser Pandemie keine absoluten Wahrheiten gibt. Wir treffen Entscheidungen und finden Kompromisse, auf Basis aktueller Erkenntnisse und nach Abwägen unterschiedlicher Interessen.

Manches wirkt einfach in der Gesamtschau willkürlich. Bei Sportveranstaltungen, die meist im Freien stattfinden, gibt es eine Obergrenze von 300 Zuschauern, in Theatern aber werden bis zu 800 Menschen zugelassen. Wo ist da die Logik?

Spahn: Wir müssen als Gesellschaft abwägen, was uns wichtig ist. In der Pandemie kann man eher damit umgehen, nicht ins Stadion gehen zu können, als hinzunehmen, dass die Kinder keine Schule haben.

Sie haben im Frühjahr formuliert: „Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Was war Ihr größter Fehler?

Spahn: Es geht dabei nicht um mich. Sondern darum, dass wir uns untereinander zugestehen, sich mal geirrt zu haben, dass wir nicht so unerbittlich werden. Mir ist wichtig, dass wir in dieser Pandemie im Umgang miteinander Maß halten. Wir sollten vielmehr aus Fehlern lernen. Das gilt übrigens nicht nur für Politiker. Es gibt sicher auch Journalisten, die im März Kommentare geschrieben haben, die sie heute nicht mehr schreiben würden. Und auch Virologen haben Empfehlungen abgegeben, die sie so nicht mehr formulieren würden.

Waren Sie nicht auch arg forsch, als sie zum Beispiel im Januar noch gesagt haben, bei Corona gebe es mildere Verläufe als bei einer normalen Grippe – das klang ziemlich harmlos

Spahn: Manche Einschätzung musste korrigiert werden. Wir konnten aber alles immer nur nach den Erkenntnissen beurteilen, die wir zum jeweiligen Zeitpunkt hatten. Bei den ersten Fällen in Bayern, bei Webasto, ging es um junge Patienten. Da waren die Verläufe tatsächlich mild. Wie furchtbar die Verläufe vor allem bei Älteren und Vorerkrankten sein können, haben wir erst später gesehen.

Und wie war das mit den Tests bei Reiserückkehrern? Da waren Sie ja im Juli nun erkennbar spät dran.

Spahn: Nicht unbedingt. Wir wussten natürlich vorher, wann die Urlaubszeit startet. Aber dass Ländern wie Spanien die Kontrolle über die Infektionslage so schnell wieder entgleiten würde, das haben wir nicht erwartet. Und auf dem Westbalkan und in der Türkei war es ähnlich. Als die Infektionszahlen dort wieder exponentiell stiegen, haben wir zügig reagiert und kostenloses Testen für Rückkehrer eingeführt. Das Virus ist dynamisch, wir müssen es auch sein.

So lange kein Impfstoff da ist, werden wir alle ja wohl mit harten Beschränkungen leben müssen. Ein wirksamer Impfstoff schien zum Greifen nah. Der Konzern AstraZeneca weckte Hoffnungen, es könnte noch in diesem Jahr was werde. Jetzt wurden die klinischen Test gestoppt, weil ein Proband Gesundheitsprobleme hatte. Ist das nur eine kleine Verzögerung oder ein ernster Rückschlag?

Spahn: Es bestätigt mich, dass man vor der Zulassung von Impfstoffen Phase-3-Tests mit tausenden von freiwilligen Probanden abwarten muss.

Kleiner Gruß nach Russland.

Spahn: In anderen Ländern gab es auch Debatten über Schnellzulassungen. Das halte ich für unverantwortlich. Solche Impfstoffe sind für Millionen Menschen gedacht. Da muss Sicherheit oberste Priorität haben. Dass Studien pausieren müssen, ist übrigens nicht ungewöhnlich. Man muss nun zunächst klären, ob es zwischen der Erkrankung und dem Impfstoff einen Zusammenhang gibt. Der aktuelle Vorfall bestätigt unsere Strategie. Wir setzen in der EU nicht nur auf einen Impfstoff, sondern auf unterschiedliche Forscherteams und unterschiedliche Technologien. Wir verhandeln mit mehreren Unternehmen, die einen Corona-Impfstoff entwickeln. Vielleicht führt das am Ende dazu, dass wir mehr Impfstoff als Bedarf haben. Aber das ist besser als andersrum.

Rigorose Impfgegner haben ohnehin andere Sorgen. Sie machen schon jetzt gegen eine Impfpflicht mobil.

Spahn: Es wird keine verpflichtende Impfung geben.

Wird denn genug Impfstoff für alle da sein?

Spahn: In der Anfangsphase wahrscheinlich nicht. Deswegen erarbeitet die Impfkommission Vorschläge, wer zuerst geimpft werden sollte. Einiges ist schon absehbar: Zunächst werden diejenigen geimpft, die beruflich bedingt einem Risiko ausgesetzt sind – Pflegende, Ärztinnen und Ärzte. Und dann kommen Risikogruppen wie Hochbetagte oder Menschen mit Vorerkrankungen. Ich bin optimistisch, dass wir nach einigen Monaten genügend Impfstoff für alle haben – wenn es dann einen gibt.

Sie haben ja geworben, dass sich möglichst viele Menschen bald gegen die „normale Grippe“, Influenza, impfen lassen. Reichen denn die Impfdosen?

Spahn: Wir werden 26 Millionen Impfdosen haben. Wenn die alle gebraucht werden, wäre das eine Steigerung der Impfbereitschaft um fast 50 Prozent.

In vier Tagen endet die Möglichkeit zum kostenlosen Testen für Einreisende aus Nichtrisikogebieten. Bei diesem Personenkreis gab es wenig positive Befunde. Sie halten das Risiko also für tragbar?

Spahn: Ja. Die erhöhte Positiven-Rate haben wir insbesondere bei Rückkehrern aus Risikogebieten. Zum Ende der Reisezeit müssen wir die Testkapazitäten wieder anders nutzen. Im Oktober werde ich eine überarbeitete Teststrategie vorlegen. Auch Antigen-Schnelltests sollen dann eine Rolle spielen. Und die Vorgaben zur Quarantäne werden aktualisiert.

Gesundheit könnte eines der großen Themen im Bundestagswahlkampf werden. Die Grünen wollen einen Ausstieg aus der „Profitlogik“ im Gesundheitssystem. Sie machen mobil gegen große Krankenhauskonzerne. Rechnen Sie mit einem Wahlkampf, in dem über Corona hinaus Gesundheitspolitik ein Schlüsselthema wird?

Spahn: Die Pandemie wird nächstes Jahr sicher noch Thema sein, ja. Und auch die Pflege. Da gibt es noch viele offene Fragen. Im Herbst werde ich deswegen Eckpunkte für eine Pflegereform vorlegen und dann umsetzen. Die Grünen mögen sich schon mit ihren Wahlkampfthemen befassen. Wir tragen die Verantwortung, arbeiten weiter und setzen um. Davon haben die Menschen mehr.

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