Warken: Wir müssen das gesamte Gesundheitssystem neu denken

Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sprach Bundesgesundheitsministerin Nina Warken u.a. über eine neue Aufgabenverteilung durch die geplante Apothekenreform, die Stabilisierung der Krankenkassenbeiträge & das anstehende Update der Digitalisierungsstrategie.

29. September 2025

RND: Frau Ministerin, Sie haben für Proteststürme der Ärzteschaft gesorgt, weil Sie Apothekern erlauben wollen, verschreibungspflichtige Medikamente ohne Rücksprache mit Medizinern abzugeben. Meinen Sie das wirklich ernst?

Bundesgesundheitsministerin Nina Warken: Natürlich. Angesichts der älter werdenden Gesellschaft und des Fachkräftemangels sind wir gezwungen, die Versorgung der Bevölkerung auf mehr Schultern zu verteilen. Die Hausarztpraxen sind voll ausgelastet, 5000 Arztsitze sind unbesetzt - und gleichzeitig sollen die Hausärzte künftig eine zentrale Rolle als erster Ansprechpartner bekommen. Wir müssen die Apotheken stärker einbinden, zumal andere Länder wie zum Beispiel Frankreich, Großbritannien oder die Schweiz damit sehr gute Erfahrung gemacht haben.

Aber wie soll ein Apotheker am Tresen den Unterschied zwischen einem leichten und einem schweren Harnwegsinfekt feststellen, bei dem er den Patienten dann doch zum Arzt schicken muss?  

Wir werden zunächst im Gesetz die grundsätzliche Möglichkeit für eine Neuregelung schaffen. Die Arzneimittelbehörde BfArM soll dann unter Beteiligung der Ärzte- und Apothekerkammer definieren, in welchen Fällen welche Medikamente abgegeben werden dürfen. Es geht nicht darum, dass Apotheken komplexe Diagnosen stellen. Denkbar sind auch Arzneimittelabgaben für Chroniker. Alle wichtigen Informationen dazu sind ja in der elektronischen Patientenakte dokumentiert.

Kritiker argumentieren, die Trennung zwischen Verschreibung beim Arzt und der Abgabe in der Apotheke habe ihren Sinn:  So sei sichergestellt, dass Entscheidungen medizinisch und nicht wirtschaftlich motiviert sei. Kein Argument für Sie?

Mit einem eindeutigen Katalog besteht keine Gefahr, dass finanzielle Motive ausschlaggebend werden. Zumal sind Apotheker keine Kaufleute, sondern ein Heilberuf. Nochmal: Wir müssen das gesamte Gesundheitssystem neu denken. Der Vorschlag ist ein Baustein einer modernen medizinischen und flächendeckenden Versorgung.

Aber erst einmal müssen Sie die Milliardenlöcher in der Krankenversicherung stopfen. Wie weit sind Sie mit ihren Gesprächen in der Koalition?

Es bleibt bei dem Ziel, die Beiträge zu stabilisieren, um weitere Belastungen der Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft zu verhindern. Wir haben innerhalb der Regierung auf höchster Ebene eine klare Absprache für das gemeinsame Vorgehen.  Allerdings müssen wir zunächst genau wissen, wie hoch das Delta tatsächlich ist. Dazu müssen wir weitere Prognosen abwarten. Bleibt es bei dem vermuteten Defizit von vier Milliarden Euro, wird es mehr sein oder am Ende weniger? Auch letzteres ist denkbar, schließlich gibt es erste Signale für eine Kehrtwende. Wenn wir die Zahlen kennen, werden wir rasch handeln. Der Zeitdruck ist allen bewusst.

Ab 1. Oktober müssen alle Arztpraxen so ausgerüstet sein, dass sie mit der elektronischen Patientenakte (ePA) arbeiten können. Noch sind aber nicht alle Praxen angeschlossen. Droht eine Bruchlandung, wie die Hausärzte kürzlich warnten?

Ich bin irritiert über Äußerungen von denjenigen, die in der praktischen Arbeit sehr stark von der ePA profitieren werden. Derzeit sind zwischen 90 und 95 Prozent der Praxen angeschlossen, täglich werden es mehr. Es gibt Systeme, die bereits funktionieren, diese sollten auch genutzt werden. In den vergangenen sieben Tagen wurden 1,9 Millionen Dokumente in die ePAs eingestellt, jede Woche kommen bis zu 200.000 dazu. Allein in der vergangenen Woche wurde 12 Millionen Medikationslisten abgerufen. Die ePA entwickelt sich zu einer Erfolgsgeschichte.

Die Ärzte beklagen allerdings eine mangelnde Stabilität. Und beim elektronischen Rezept spottete der Apotheker-Verband, es laufe in Sachen Unzuverlässigkeit der Deutschen Bahn den Rang ab. Sind Sie zufrieden mit der Performance?

Die Stabilität muss besser werden, keine Frage. Die Anwendung ist gut, das dahinterstehende System aber auch sehr komplex. Alle Beteiligten müssen ihren Beitrag leisten, damit weniger Probleme auftreten – auch die Industrie. Wir leisten ebenfalls unseren Beitrag durch gesetzliche Änderungen, die die technische Infrastruktur betreffen. Insgesamt haben wir mit fast 1 Milliarde eingelöster E-Rezepte den Versorgungsalltag deutlich verbessert.

Haben Sie Pläne für weitere Digitalisierungsschritte?

Wir haben gestern den Startschuss für ein dringend notwendiges Update der Digitalisierungsstrategie gegeben. Auf dieser Basis werden wir im kommenden Frühjahr zwei Digitalgesetze vorlegen. Darin werden unter anderem die ePa, die Stabilisierung der technischen Strukturen und die stärkere Digitalisierung in der Versorgung im Zentrum stehen.

Welche Anwendung kommt als Nächstes?

Die vorhandenen Anwendungen werden weiterentwickelt, so werden auch Digitale Gesundheitsanwendungen oder die häusliche Krankenpflege als E-Rezept verordnet werden können. Bei der ePA sollen nach dem digital gestützten Medikationsprozess strukturierte Labordaten und die standardisierte Patientenkurzakte folgen. Ebenfalls wollen wir die Überweisung als letzten analogen Prozess in der Versorgung digitalisieren. Das wird zu einer weiteren erheblichen Vereinfachung für Arztpraxen und Versicherte führen.

Ab wann kann die e-Überweisung genutzt werden?

Wir müssen - wie erläutert - zunächst im kommenden Jahr die gesetzlichen Grundlagen schaffen und natürlich auch die entsprechenden digitalen Prozesse vorbereiten. Wir wollen sie im Kontext des Primärarztsystems umsetzen.

Welche Rolle spielt die Künstliche Intelligenz in ihren Plänen?

Bei Besuchen vor Ort werden mir immer wieder faszinierende Anwendungen gezeigt, wie die KI schon heute genutzt werden kann. Etwa bei der Auswertung von Darmspiegelungen, um dank der weltweiten Datengrundlage früher als bisher Auffälligkeiten zu entdecken. Bei der Diagnose von Krebserkrankungen ist KI zur Unterstützung enorm gewinnbringend. Ebenso hat KI bei Verwaltungsaufgaben und der Dokumentation großes Potential zur Entlastung, so können Pflegekräfte ihre Tätigkeiten einfach diktieren und daraus wird automatisch die Dokumentation erstellt. Die KI wird ein wichtiger Bestandteil der überarbeiteten Digitalstrategie sein.

Muss es nicht Grenzen beim KI-Einsatz geben, wenn es um die Gesundheit von Menschen geht?

Selbstverständlich braucht es klare Regeln. KI kann daten- und evidenzbasierte Empfehlungen geben und so die Arbeit aller im Gesundheitswesen unterstützen. Die Verantwortung über eine Behandlung muss dabei aber immer beim Menschen bleiben. Die KI ist ein mächtiges Hilfsmittel. Doch sie kann und darf die Ärzte nicht ersetzen. Hier gibt es eine ganz klare Grenze.

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