Warken: Arbeit in Hausarztpraxen und im ganzen Gesundheitswesen auf mehr Schultern verteilen

Im SPIEGEL-Interview sprach Bundesgesundheitsministerin Nina Warken über aktuelle Herausforderungen für die Gesundheitspolitik und ihre Pläne für 2026.

22. Dezember 2025

SPIEGEL: Frau Warken, waren Sie schon beim Arzt, seitdem Sie Gesundheitsministerin sind?

Bundesgesundheitsministerin Nina Warken: Noch nicht. Aber natürlich blicke ich jetzt anders auf unser Gesundheitssystem. Wenn ich ein Rezept einlöse, weiß ich genauer, wie der Apotheker das abrechnet und welche Prozesse im Hintergrund ablaufen. Viele Menschen berichten mir außerdem von ihren Erfahrungen: von Bürokratie, langem Warten auf Arzttermine – aber auch von Dankbarkeit, wenn ihnen geholfen werden konnte.

Sie sind eigentlich Innenpolitikerin und als Fachfremde ins Amt gestartet. Hatten Sie eine Vorstellung davon, was auf Sie zukommt?

Mir war klar, dass die Herausforderung groß ist. Ich wusste, dass wir in der Koalition Kompromisse machen müssen und dass es dabei Diskussionen geben wird. Aber ein hundertprozentiges Bild von der Aufgabe hatte ich natürlich nicht.

Medikamente werden immer teurer, in den Krankenhäusern und Arztpraxen steigen die Kosten massiv, den Kassen fehlt das Geld. Mit Ihrem ersten Sparpaket wären Sie fast an den Bundesländern gescheitert. Haben Sie die Komplexität des Systems unterschätzt?

Das war nicht so komplex. Wir wollten erreichen, dass die Beiträge für die gesetzlich Versicherten stabil bleiben. Dafür wollten wir bei den Kliniken sparen. Das Problem war, dass die Länder die Entscheidung und die Wirkung auch für die Folgejahre als zu kurzfristig empfunden haben. Manche von ihnen hätten sich gewünscht, dass wir nicht einen großen Batzen bei den Kliniken sparen, sondern in vielen verschiedenen Bereichen etwas. Für mich ist diese Maßnahme bei Kliniken schlüssig, da sie die Kostensteigerung auf das reale Maß begrenzt. Im kommenden Jahr werden wir die Einsparungen auf viele Schultern verteilen.

Viele Kassen werden trotz Ihres Sparpakets die Zusatzbeiträge erhöhen. War es ein Fehler, dass Sie und Kanzler Merz versprochen haben, dass die Krankenkassenbeiträge für gesetzlich Versicherte nicht steigen werden?

Wir haben getan, was wir politisch konnten. Damit haben wir das Signal gesendet: Die Bundesregierung nimmt es nicht hin, dass die Beiträge jedes Jahr steigen. Aber es liegt nicht allein in unserer Hand. Wie hoch der Zusatzbeitrag ist, entscheiden die Kassen.

Wenn die Kosten zu stark steigen, haben die Kassen keine andere Wahl. Das Problem ist doch, dass die Bundesregierung wieder mehr versprochen hat, als sie halten konnte. Viele Menschen werden das im Geldbeutel spüren.Wenn wir gar nichts gemacht hätten, wäre der durchschnittliche Zusatzbeitrag auf jeden Fall um 0,3 Prozentpunkte gestiegen. Jetzt erhöhen im kommenden Jahr einige Kassen, andere nicht.

Der Chef der DAK-Krankenkasse warnt für die kommenden Jahre vor einem »Beitragstsunami«.

Da würde ich mir etwas mehr Differenzierung wünschen. Richtig ist: Mit dem Sparpaket bei den Kliniken ist es nicht getan. Wir brauchen ein großes Sparprogramm, um die Kosten bei den gesetzlichen Kassen zu senken. Dafür wird eine von mir eingesetzte Kommission im kommenden Frühjahr Vorschläge machen.

Möglichkeiten gibt es genug. Sie haben zum Beispiel bemängelt, dass gesetzlich Versicherte die Kosten für die Behandlung von Bürgergeldempfängern mittragen. Sie wollten Finanzminister Klingbeil überzeugen, dass stattdessen der Staat die zehn Milliarden Euro übernimmt. Warum sind Sie gescheitert?

In den Koalitionsverhandlungen konnten wir uns in diesem Punkt nicht einigen, wir haben im Haushalt wenig Spielraum. Ich bleibe aber dabei: Die aus der unzureichenden Finanzierung entstehende Unterdeckung mit Blick auf die Bürgergeldempfänger belastet derzeit allein die gesetzlich Versicherten, die Privatversicherten nicht. Das ist unfair. Ich arbeite weiter daran, dass wir dafür eine Lösung finden.

Sie haben auch erwogen, die Zuzahlung für rezeptpflichtige Medikamente zu erhöhen. Die liegt momentan zwischen fünf und zehn Euro. Die Sozialdemokraten sind dagegen. Ist eine Einigung in Sicht?

Wir verhandeln in der Koalition gerade nicht über einzelne Ideen. Ich halte einen solchen Schritt dennoch für nachvollziehbar, weil die Zuzahlung seit über 20 Jahren nicht angepasst wurde. Wenn die Kommission ihre Vorschläge gemacht hat, schnüren wir ein Paket.

Ein hoher Kostenfaktor ist auch die Zahl der Arztbesuche. Fast zehn Mal gehen Deutsche im Durchschnitt pro Jahr zum Arzt. Die Schweden nur zwei Mal. Was macht das Land besser?

Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Schweden ihr System anders aufgestellt haben. Wenn man dort in ein Gesundheitszentrum kommt, hat man häufig erstmal Kontakt mit medizinischem Fachpersonal und nicht direkt mit einem Arzt. Dann entscheidet beispielsweise eine speziell ausgebildete Fachperson, ob die Person überhaupt einen Arzt sehen muss.

Das heißt, dieses Fachpersonal sortiert schon mal vor?

Wenn jemand im Winter mit einer Erkältung in die Infektsprechstunde kommt und die Sache ist eindeutig, dann muss nicht zwingend ein Arzt entscheiden, was zu tun ist. Meistens geht es ja um eine Krankschreibung. Ich halte das für klug. Mein Ziel ist, dass wir in Deutschland die Hausärzte entlasten. Das kann heißen: Auch das Fachpersonal macht Hausbesuche, führt bestimmte Sprechstunden oder Untersuchungen durch.

In Deutschland ist es normal, einen Arzt zu sehen, wenn man in der Praxis behandelt wird. Überschätzen Sie da nicht die Veränderungsbereitschaft der Menschen?

Ja, das bedeutet für die Patienten eine Umstellung. Dafür braucht es Vertrauen, auch in die Fähigkeiten der medizinischen Fachangestellten. Aber viele Bürgerinnen und Bürger sind sicherlich bereit, neue Wege zu gehen, wenn sie merken: Es lohnt sich. Denn dafür sitzen sie dann auch nicht drei Stunden neben einem Grippepatienten in einem überfüllten Wartezimmer.

Sie planen zudem ein sogenanntes Primärarzt-System. Das heißt: Man kann nicht mehr einfach zum Facharzt, sondern muss erst zum Hausarzt und eine Überweisung holen. Kritiker befürchten, dass die Hausärzte zum Nadelöhr werden.

Genau deshalb ist es wichtig, was wir gerade besprochen haben. In den Hausarztpraxen und im Gesundheitswesen insgesamt muss die Arbeit auf mehr Schultern verteilt werden.

Mit dem Primärarztsystem wollen Sie die Zahl der Arztbesuche reduzieren. Es ist doch aber weltfremd, dass ich erst zum Hausarzt soll, wenn ich eine Augenentzündung habe und genau weiß, dass ich eigentlich zum Augenarzt muss.

Ich halte das generell für ein sehr sinnvolles System. Momentan passieren die Facharztbesuche weitestgehend ungesteuert. Menschen haben Doppeluntersuchungen, gehen zum falschen Facharzt oder zu verschiedenen Fachärzten. Das ist nicht effizient. Ich gebe Ihnen aber Recht: Zu einigen Fachärzten sollen die Menschen weiterhin direkt gehen können. Dazu gehört der Augenarzt.

Welche noch?

Das werden wir mit der Ärzteschaft besprechen, das kann man im Ministerium nicht am grünen Tisch entscheiden. Ganz sicher gehören auch Frauenärztinnen und -ärzte dazu. Auch wer eine chronische Krankheit hat und zum Beispiel einmal im Jahr zum Urologen muss, soll weiterhin direkt zu seinem Facharzt gehen können. Bei Vorsorgeuntersuchungen wäre es ebenfalls sinnvoll. Wir wollen ja den Menschen nicht das Leben schwer machen.

Der Chef der Techniker Krankenkasse plädiert dafür, dass die Ersteinschätzung vor der Terminvergabe auch digital erfolgen kann. Was halten Sie von der Idee?

Jeder, der zu seinem Hausarzt will, soll das weiterhin tun können. Wir werden uns aber breiter aufstellen. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass man für eine strukturierte Ersteinschätzung ein Videotelefonat führt und so auch eine E-Überweisung erhalten kann. Das wäre ein sehr schneller Weg. Es geht uns um Steuerung, nicht um Gängelung.

Experten sind sich einig, dass es im deutschen Gesundheitssystem tiefgreifende Reformen braucht. Ist die schwarz-rote Koalition dazu überhaupt in der Lage?

Ohne Zweifel. Wir sind uns bewusst, dass wir noch große Schritte vor uns haben und der Weg bis hierhin schon recht mühsam war. Das Primärversorgungssystem ist eine sehr umfangreiche Strukturreform. Auch von den Ergebnissen der angesprochenen Expertenkommission erhoffe ich mir viel. Es wird eine gemeinsame Kraftanstrengung brauchen, aber das schaffen wir.

Kluge Expertenvorschläge reichen nicht aus. Union und SPD müssen sich einigen, liegen in ihren Vorstellungen aber weit auseinander. Die SPD sperrt sich zum Beispiel gegen jede Leistungskürzung, die Union will partout die Gruppe der Beitragszahler nicht ausweiten und etwa keine Selbstständige mit reinnehmen.

Ich bin optimistisch, dass wir einen Weg finden. Dabei werden sich beide Seiten bewegen müssen. So funktioniert kompromissfähige Politik.

Die Union hat Steuererhöhungen ausgeschlossen. Ansonsten wäre die Erhöhung der Steuern auf Alkohol, Tabak oder Zuckerprodukte ein guter Weg, um mehr Geld in die Gesundheitskassen zu spülen und die Menschen zu einem gesünderen Verhalten zu bewegen.

Beim Thema Prävention müssen wir definitiv vorankommen. Das ist aber ein schmaler Grat: Wir wollen die Menschen in die richtige Richtung bewegen, aber wenn sie sich bevormundet fühlen, ruft das eher Abwehrreaktionen hervor. Andere Länder gehen da auch ungewöhnliche Wege. Letztens hat mir der Gesundheitsminister von Saudi-Arabien erzählt, dass sie um Schulen herum keine Fastfood-Filialen erlauben. Das will ich mir nicht abschauen, aber es zeigt, dass andere Länder da strikter sind.

Unsere Frage nach den Steuern haben Sie allerdings nicht beantwortet.

Es gibt auf EU-Ebene gerade eine Evaluation, bei der es genau darum geht: höhere Steuern auf Zucker, Tabak und sogar hochverarbeitete Lebensmittel. Das Ergebnis kommt hoffentlich bald. Das heißt nicht, dass wir in Deutschland im nächsten Jahr eine Zuckersteuer einführen. Aber wir müssen auch über Dinge sprechen, die bislang tabu waren.

Über Ihren Job heißt es: Eigentlich müsste den jemand machen, der politisch nichts mehr vorhat. Welche Reform würden Sie anstoßen, wenn es egal wäre, ob Sie sich damit unbeliebt machen?

Ich möchte keinen Beliebtheitspreis gewinnen. Diesen Job kann man gar nicht machen, wenn man Kritik vermeiden will und nur auf sich selber Rücksicht nehmen kann. Wenn wir im kommenden Jahr zum Beispiel das Primärversorgungssystem umsetzen und weitere Sparpläne machen, wird es genug Gegenwind geben.

In Ihrer Partei kursiert das Gerücht, dass Sie im Frühjahr nach Baden-Württemberg wechseln wollen, um dort nach der Landtagswahl Ministerin zu werden. Wollen Sie Ihren Job in Berlin schon wieder aufgeben?

Auf keinen Fall. Einen Wechsel nach Stuttgart schließe ich aus. Mein Job gefällt mir. Ich war Generalsekretärin in Baden-Württemberg und bleibe der Landespartei verbunden.

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