Lauterbach: Über den Weg der Wissenschaft die Pandemie beenden

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach spricht vor dem Bundesrat u.a. zu Vorbereitungen auf den kommenden Corona-Herbt und Winter, Anpassungen des Infektionsschutzgesetzes und neuen verfügbaren Impfstoffen.

16. September 2022

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Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich will mich zunächst einmal für die Gelegenheit bedanken, dass wir dieses wichtige Gesetz heute debattieren können, und kurz ausführen, wo wir derzeit stehen: Wir sind inmitten einer sogenannten BA.5-Welle der Pandemie und können zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar vorhersehen, wie es weitergeht. Es gibt die Möglichkeit, dass eine andere Variante kommt, die verwandt ist mit BA.5, BA.2.75. Es können auch andere Varianten kommen. Es hat sich eben gezeigt, dass die Varianten, die kommen können, unüberschaubar sind.

Wenn man über den Daumen peilt: „Wie viel Prozent der möglichen Varianten hat SARS-CoV jetzt im Prinzip ausgespielt, wie viel kann da noch kommen?“, dann liegt das, was ausgespielt ist, im einstelligen Bereich. Das heißt, wir sind wirklich zu jedem Zeitpunkt in der Lage, zu sagen, wir beobachten es genau, aber wir wissen nicht, was kommt. Daher muss das Gesetz, das wir jetzt machen, für die nächsten Monate all das vorsehen, was wir möglicherweise brauchen werden.

Es hat sich auch gezeigt, dass es falsch ist, anzunehmen, dass neue Varianten immer harmloser sind. BA.5 beispielsweise verläuft schwerer als BA.2 und BA.1. Wir bekommen es im Alltag nicht so mit, aber es ist so, dass diejenigen mit der BA.5-Variante, die intubiert und beatmet werden müssen, zu 50 Prozent sterben. Ich höre oft „milde Variante“ und dergleichen. Das sieht nicht so mild aus, wenn Sie die Intensivstationen betreten. Das muss man daher ernst nehmen.

Es sterben derzeit um die 100 Menschen pro Tag; das schwankt etwas. Ich möchte einfach, dass wir uns daran nicht gewöhnen. Das sage ich hier an dieser Stelle. Das ist meine Aufgabe, es ist aber auch meine Überzeugung. Ich möchte nicht, dass wir uns daran gewöhnen, dass jeden Tag 100, 150 oder in Zukunft gar 200 Menschen an SARS-CoV sterben – und zum Teil schwer sterben. Das ist nicht der Tod, den man sich selbst oder seinen geliebten Menschen wünscht. Das ist der Grund, weshalb ich dieses Gesetz ernst nehme. Ich kann mit jeder Kritik leben, aber es muss zum Schluss so sein, dass wir vorbereitet sind. Wir müssen die Lage im Griff haben. Wir gehen daher mit dem Gesetz in vier Bereiche hinein.

Zum einen: neue Impfstoffe. Diese angepassten Impfstoffe, das möchte ich hier sagen, sind sehr gute Impfstoffe. Wir hatten bisher keine omikronadaptierten Impfstoffe. Die omikronadaptierten Impfstoffe, die wir jetzt haben, BA.1 und BA.5, haben eine deutlich bessere Wirkung gegen die Omikron-Varianten. Der Antikörpertiter ist sehr viel höher: 5- bis 20-mal so hoch. Das sind also deutlich bessere Impfstoffe.

Bitte betonen Sie die Gemeinsamkeiten dieser Impfstoffe, nicht das Trennende! Ich werde oft gefragt: Welcher ist der bessere Impfstoff? Der Abstand vom BA.1- zum Wuhan-Impfstoff beträgt ungefähr 40 Mutationen. Von BA.5 zu BA.3 sind es noch drei Mutationen. Das heißt, die Gemeinsamkeit dieser Impfstoffe ist das Entscheidende. Beide Impfstoffe schützen deutlich besser vor Ansteckung und schwerer Erkrankung bei BA.5 und bei BA.2.75, sie schützen aber auch gegen die alten uns bekannten Varianten, sodass wir mit diesen Impfstoffen gut vorbereitet sind.

Die Impfkommission ist erweitert worden. Wir haben jetzt eine PAIKO, Pandemieimpfkommission. Diese hat in den letzten beiden Tagen zwei Mal getagt. Wir werden in der nächsten Woche entsprechend gute Empfehlungen für diese Impfstoffe bekommen. Der BA.5-Impfstoff wird ab Mitte der nächsten Woche ausgeliefert werden, der BA.1-Impfstoff wird schon ausgeliefert. Das ist am Anfang nicht das Volumen, das wir benötigen. Wir haben aber so viel Impfstoff, dass wir in den nächsten Wochen jeden impfen können, der geimpft werden möchte. Somit sind wir diesbezüglich sehr gut vorbereitet. Das ist der erste Punkt, den ich erwähnen möchte.

Der zweite Punkt ist: Wir nutzen zu wenig die Medikamente, die wir einsetzen könnten. Hier ist besonders Paxlovid von Bedeutung. In Israel wurde gezeigt, dass diejenigen, die mit Corona infiziert sind, sehr leicht zu unterscheiden sind in Risikopatienten und Nicht-Risikopatienten. Sieben Prozent der Menschen machen ungefähr 70 Prozent der schweren Verläufe bei Covid aus, auch bei der Omikron-Variante. In Israel gelingt es, diese sieben Prozent sofort aktiv aufzusuchen und ihnen mit Paxlovid eine Medikation zu geben, die den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflusst. Um 75 Prozent sinkt das Risiko, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden. Um fast 80 Prozent sinkt die Sterblichkeit. Das heißt, wir haben hier ein Medikament, das mit geringen Nebenwirkungen für fünf Tage eingenommen das Risiko, ins Krankenhaus zu müssen, um 75 Prozent senkt. Wie viele Medikamente kennen wir, die eine solche Leistung haben? Trotzdem setzen wir diese Medikamente viel zu wenig ein, auch im internationalen Vergleich. Daran arbeiten wir.

Wir haben mit den Hausärzten zusammen eine Empfehlung gemacht, dass diese Medikamente auch bei Kon­traindikationen eingesetzt werden können, sodass die Nebenwirkungen abgefedert werden. Wir arbeiten dort also sehr pragmatisch. Das Dispensierrecht wird an die Hausärzte gegeben. Wir können das Medikament in den Pflegeeinrichtungen lagern. Es kann per Botendienst zu den Versicherten gebracht werden. Wir werden also in den nächsten Wochen viel dafür tun, die Sterblichkeit der Menschen zu senken, indem wir diese Medikamente einsetzen.

Ich komme zur dritten Säule: Das ist der Pandemieradar. Nichts ist perfekt, das ist klar. Aber klar ist auch, dass das viel besser ist als alles, was wir hatten. Wir haben die Krankenhäuser schon zu einem großen Teil an das DEMIS-System angeschlossen, und wir werden es in den nächsten Wochen schaffen, dass fast jedes Krankenhaus, das Covid-Patienten versorgt, über das DEMIS-System tagesaktuell die belegten und die belegbaren – also nicht die aufgestellten, sondern die belegbaren – Betten meldet. Wir werden unterscheiden können: Wer kommt für Covid in die Klinik? Wer kommt mit Covid in die Klinik, aber die Krankheit verläuft schwerer, weil der Patient Covid hat? Und wer kommt mit Covid in die Klinik, aber der Verlauf der Krankheit ist davon nicht beeinflusst? Das werden wir unterscheiden können.

Das Abwassermonitoring ist natürlich eine subjektive Angelegenheit, aber es hat sich überall, wo es eingesetzt wird, nutzbar gemacht, um sehen zu können: Gehen die Fallzahlen hoch, oder stagnieren die Fallzahlen? Dafür ist es sehr wertvoll. Dafür verwenden wir es. Und wo es benutzt wird, tut es diese Dienste auch, zum Beispiel in meiner Heimatstadt Köln. Das heißt, es funktioniert. Wir werden es einsetzen.

Wir werden die Situation auf den Intensivstationen mit der DIVI ganz genau, tagesaktuell kennen. Wir werden die Dunkelziffer besser berechnen können, indem wir in den Kliniken und Praxen die Lungenerkrankungen monitoren, also bessere Daten haben. Somit haben wir mit dem Pandemieradar einen viel besseren Überblick über das pandemische Geschehen. Das ist auch die Antwort auf die Frage, die Bodo Ramelow eben zu Recht angesprochen hat: Wie steuern wir eigentlich den Einsatz des Infektionsschutzgesetzes?

Die vierte Säule ist das Infektionsschutzgesetz. Mit diesen sehr präzisen Daten bekommen wir eine Gesamtschau darüber, wo wir derzeit stehen. Eine Gesamtschau. Davon, jetzt einzelne Parameter quantitativ vorzugeben, haben alle Wissenschaftler abgeraten. Und selbst, wenn sie es nicht gemacht hätten, hätte ich das trotzdem nicht vorgeschlagen – weil es keinen Sinn macht.

Ich bringe einmal ein Beispiel. Wenn ich mit der Inzidenz gehe: Die Inzidenz macht doch nur Sinn, wenn ich genau weiß: Welche Variante ist das? Ich kann ja nicht von einer Inzidenz sprechen – „die Inzidenz ist gut, die Inzidenz ist schlecht“ und so weiter –, wenn ich nicht weiß, welche Variante das gerade ist. Oder wenn ich beispielsweise die Belegung auf den Intensivstationen betrachte, muss ich doch wissen: Sind das jetzt Leute, die für Covid, mit Covid oder für ganz andere Krankheiten dort liegen?

Somit: Diese Gesamtschau – das haben uns Juristen vorgetragen, aber auch Wissenschaftler –, ist das, was ich in der Gefahrenabwehr nutzen kann und nutzen muss. Und da sind wir gemeinsam gefragt. Natürlich kann man alles ins Absurde führen, indem man sich ganz seltene Konstellationen denkt, aber meistens geht das doch in die gleiche Richtung: Fallzahlen steigen, die Intensivstationen füllen sich, das Abwassersystem zeigt alarmierende Werte. Somit geht auch die Gesamtschau meistens in eine Richtung. Damit können wir doch arbeiten. Und ich sage: Damit müssen wir auch arbeiten. Das ist auch das, was wir in der Vergangenheit getan haben. Auch in der Vergangenheit hat die Gesamtschau immer eine große Rolle gespielt.

Ihnen allen ist das Infektionsschutzgesetz bekannt. Wir haben eine Lage vor uns, die wir schwer abschätzen können. Der Expertenrat unterteilt das in drei unterschiedliche Szenarien. Ich selbst glaube, dass das mittlere Szenario das wahrscheinlichste ist, also sehr ansteckende Varianten, die aber nicht ganz so schwer verlaufen. Wenn dem so wäre, dann könnten wir mit diesem Infektionsschutzgesetz über die Bundesregeln, über die Landesregierungsregeln und die Landesparlamentsregeln auf das reagieren, was nötig ist.

Wir haben sehr stark die Systeme in den Vordergrund gestellt, die wirklich funktionieren, insbesondere die Masken. Da haben wir noch einmal aufgerüstet in den Krankenhäusern, in den Arztpraxen, in Pflegeeinrichtungen, indem wir dort das Schutzniveau erhöht haben. Das klingt erst einmal nicht plausibel, das klingt abwegig, dass wir eine im Verlauf harmlosere Variante als die Delta-Variante haben und trotzdem die Maskenpflicht verschärft wird. Plötzlich ist von FFP2-Masken die Rede. Wie kann das denn sein? Harmlosere Variante – bessere Masken? Na ja, es ist eben so: Diese Variante ist zwar etwas harmloser im Verlauf, aber sie ist deutlich ansteckender. Somit wirken dort die normalen Mund-Nasen-Schutzmasken nicht ausreichend. Hier ist das System: Wenn wir schon Maske tragen, dann muss die Maske auch wirken. Und das ist bei einer dermaßen hochansteckenden Variante bei den FFP2-Masken der Fall. Daher haben wir uns entschieden, das vorzugeben.

Frau Prien, ich möchte ganz kurz auf das eingehen, was Sie gesagt haben, also auf § 34, die Kinder und so weiter: Ich mache das gerne. Ich sage es ganz einfach, ich nehme das gerne heraus. Ich möchte hier aber eines klarstellen, damit wir uns nicht missverstehen. Das muss ganz klar verstanden werden: Das Ziel, das wir verfolgen, ist das gleiche. Auch wir haben uns überlegt: Was können wir tun, um den Schulausfall zu verhindern? Auch uns ging es darum. Auch meine Tochter hat fast ein Jahr lang die Schule nicht betreten können. Wir sind alle betroffen. Wir kennen das System. Es geht uns um das Gleiche, das sollten wir uns nicht gegenseitig absprechen. Wir sollten uns nicht den guten Willen absprechen, sonst arbeiten wir denjenigen zu, mit denen wir, glaube ich, alle, die wir hier zusammen sind, nichts gemeinsam haben wollen.

Wir haben überlegt: Wie können wir verhindern, dass viele Ausbrüche in den Schulen stattfinden? Das war unser Vorschlag. Wenn Sie einen eigenen Vorschlag entwickeln wollen – das ist ja das, was die Länder jetzt machen wollen –, sind wir damit voll einverstanden. Alles gut! Ich finde, das ist auch der Wert einer solchen Beratung. Aber klar muss sein: Das ist bona fide geschehen. Wir haben wirklich versucht, zuzuarbeiten und es Ihnen leichter zu machen. Die eine oder andere Landesregierung wird sich leichttun, daraus gute Regeln zu entwickeln. Das wird möglicherweise nicht für jede Landesregierung gleichermaßen leicht sein. Daher ist das etwas, was wir aufgreifen: Wir entfernen das. Aber es war nur zum Schutze der Kinder und zur Vermeidung von Schulausfall gedacht – nicht mehr und nicht weniger. Das möchte ich ausdrücklich betonen.

Lassen Sie mich abschließen! Wir sind bisher als Land besser durch die Pandemie gekommen als viele andere Länder, und das ist nichts, worüber wir nur froh sein können. Das ist auch etwas, das uns wehtun muss. Mich bestürzt es immer, wenn ich Länder sehe, mit denen ich viel gemeinsam habe, wo ich oft bin und wo ich sehe, dass im politischen Streit vieles nicht möglich gewesen ist, was die Bevölkerung geschützt hätte. Wir sind gut durchgekommen. Dazu hat auch unser System des Föderalismus einen wesentlichen Beitrag geleistet. Es wird ja immer so getan von wegen „Flickenteppich“, „alles anders“ und so. Das ist kein Argument. Wenn in den Bundesländern unterschiedliche pandemische Situationen vorherrschen, müssen wir auch unterschiedlich reagieren. Da dürfen wir uns nicht vorführen lassen.

Wir haben bisher aus meiner Sicht gut zusammengehalten. Wir haben nicht immer in jedem Punkt die gleiche Meinung vertreten, aber im Großen und Ganzen hat es funktioniert, und ich glaube, dass wir das weiter praktizieren sollten und können. Wir sind gut vorbereitet. Ich bitte um Zustimmung für unser Gesetz. Ich bitte auch um eine gute Zusammenarbeit. Wir – Kultusminister und Gesundheitsminister – werden uns in Kürze auf meine Einladung hin zusammenfinden. Wir werden breit diskutieren und werden das dann noch besser vorbereiten für den Herbst. Aber die Gemeinsamkeit dürfen wir uns im politischen Alltagstreit und ‑geschäft nicht nehmen lassen. Dann werden wir auch weiter gut durchkommen.

Allerletzter Satz: Ich werde immer zitiert als jemand, der zentral pessimistisch ist: Die Pandemie geht nie vorbei und so weiter und so fort. Ich bin, was diese Pandemie angeht, zum Schluss ein Optimist dahin gehend, dass ich glaube, dass wir das über den Weg der Wissenschaft beenden werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, vielleicht schon im nächsten Sommer, zu Impfstoffen kommen werden, die die Schleimhautimmunität aufbauen, nasale Impfstoffe, inhalative Impfstoffe. Daran wird intensiv gearbeitet. Impfstoffe, die gegen viele Varianten gleichzeitig wirken. Wenn wir diese Impfstoffe, die dann das Ansteckungsrisiko deutlich reduzieren, haben, werden wir es zum Schluss in den Griff bekommen, werden wir es beenden. Bis dahin haben wir noch einen weiten Weg zu gehen, aber den werden wir gemeinsam schaffen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

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