Spahn "Diese Legislatur markiert eine Zeitenwende in der Digitalisierung des Gesundheitswesens"

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn spricht im Interview mit dem Handelsblatt über Erfolge, Fortschritte und Hürden bei aktuellen Digitalisierungsprojekten im Gesundheitswesen.

Handelsblatt: Herr Spahn, zu Beginn ihrer Amtszeit als Bundesgesundheitsminister sagen Sie in einem Handelsblatt-Interview: „Es gibt kaum einen Bereich, in dem noch so viel gefaxt wird wie im Gesundheitswesen.“ Wie ist der Stand der Digitalisierung heute?

Bundesgesundheitsminsiter Jens Spahn: Diese Legislatur markiert eine Zeitenwende in der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Endlich stehen die Vorteile digitaler Lösung nicht mehr  nur in irgendwelchen Strategiepapieren, sondern kommen ganz praktisch im Alltag von Ärzten, Apothekern und Patienten an. Die elektronischen Patientenakte haben wir gestartet, das e-Rezept kommt, die Videosprechstunde ist ein Erfolg. In wenigen Monaten werden wir uns die digitalen Elemente im Gesundheitswesen gar nicht mehr wegdenken können.

Ihre Zukunftsvorstellung klang bei Amtsantritt so: „Eine sichere elektronische Patientenakte, in der alle unsere Gesundheitsdaten gespeichert sind. Ärzte, die wir per Telemedizin kontaktieren. Oder Apps, die chronisch Kranken im Alltag helfen.“ Wie weit sind wir davon noch entfernt?

Das ist alles umgesetzt und wird nun mehr und mehr zum Alltag im Gesundheitswesen. Wir sind Riesenschritte vorangekommen. Als ich Minister wurde, war die Videosprechstunde verboten. Wir haben sie nicht nur erlaubt, sondern dafür einen sicheren Rechtsrahmen definiert und eine Vergütung festgelegt. 2019 wurden in Deutschland 3000 Videosprechstunden abgerechnet. Im ersten Halbjahr 2020 waren es bereits 1,4 Millionen. Der Alltag im Gesundheitswesen ändert sich rapide. In sechs oder zwölf Monaten werden wir alle, auch als Patientinnen und Patienten, die Digitalisierung im Gesundheitswesen ganz anders wahrnehmen.

Wird es Ihnen bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen so ergehen wie einst Gerhard Schröder mit der Agenda 2010? Sie legen mühsam die Basis für einen Erfolg, welchen dann ihr Nachfolger oder Nachfolgerin einfährt.

Entscheidend ist doch, dass es vorangeht. Ich werde mich jedenfalls freuen, wenn mein Arzt in einigen Monaten auf meine elektronische Patientenakte zugreift, oder ich mit einem e-Rezept ein Medikament aus der Apotheke hole.

Praxen müssen die elektronische Patientenakte schon seit Juli vorhalten, kaum einer kann sie allerdings befüllen. Aus der Ärzteschaft kommt deswegen der Vorwurf, dass sie zu knappe Deadlines setzen.

Das ist falsch. Fast 90 Prozent der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind inzwischen an die Telematik-Infrastruktur angebunden – und sie werden bald alle elektronische Patientenakten befüllen können. Es gibt Ärztinnen und Ärzte, die unglaublich Lust auf die Digitalisierung haben - und jene, denen das alles zu anstrengend, zu schnell und zu teuer ist. Aber Tempo ist relativ. Die elektronische Patientenakte hätte doch schon längst da sein müssen, sie steht seit 2004 im Gesetz. Und wenn wir das Tempo nicht machen, machen es die US-amerikanischen IT-Giganten. Dann kommen irgendwann die Patienten mit ihrer Apple-Patientenakte in die Praxen und sagen, wir wollen darin unsere Daten speichern. Das will ich nicht.

Wie viele Praxen sind denn bereits an die elektronische Patientenakte angeschlossen?

Die Konnektoren aller Hersteller sind für die ePA, die elektronische Patientenakte, zugelassen, bei den IT-Systemen für die Arztpraxen ist der weit überwiegende Teil - circa 70-80% - ePA-fähig. Diese Möglichkeit werden immer mehr Ärztinnen und Ärzte in den kommenden Wochen und Monaten auch nutzen. Gerade mit Blick auf die IT in den Arztpraxen aber muss einiges schneller werden oder einzelne Software-Anbieter müssen den Markt verlassen. Es kann ja nicht sein, dass alle im System – Ärzte, Medizinische Fachangestellte, IT-Dienstleister vor Ort, die Industrie -  sich anstrengen und die Patientinnen und Patienten nachher die Akte nicht nutzen können, weil eine Minderheit der Praxis-Software-Anbieter schlicht nicht auf der Höhe der Zeit sind. Das ist eines der Themen, das in der nächsten Legislaturperiode noch stärker in den Fokus muss.

Auch beim e-Rezept hakt es. In der Gesundheitsbranche heißt es, die Testphase sei ein Flop gewesen. Kein einziges Rezept habe einmal den vollständigen Prozess durchlaufen. Woran liegt das?

Zuerst einmal: Es gibt bereits Rezepte, die in der laufenden Testphase vollständig den Prozess durchlaufen haben. Aber wir haben die Testphase um zwei Monate bis zum 30.11.2021 verlängert, um mehr Erfahrungen mit dem e-Rezept zu bekommen.

Ist der Starttermin 1. Januar zu halten?

Ja, das e-Rezept wird dann schrittweise starten. Wichtig für Patientinnen und Patienten: Sie haben zwar die Möglichkeit, sich e-Rezepte aufs Handy laden zu lassen. Aber sie müssen nicht. Sie können weiterhin einen Ausdruck bekommen und einlösen. Aber der sieht dann anders aus – mit QR-Code. Ich bin überzeugt. Das wird sich auf Dauer durchsetzen. Wie der digitale Boarding Pass beim Fliegen.

Wenn Sie noch einmal vier Jahren zurückgehen könnten, würden Sie etwas anders machen?

Der prinzipielle Ansatz war jedenfalls richtig. Wir haben die Grundlagen verändert, das Mindset: Es geht nicht um das eine, zentrale staatliche System und die eine zentrale staatliche Anwendung, die perfektioniert werden muss. Wir haben mit der Telematik-Infrastruktur ein staatliches Netz aufgebaut, auf das nun verschiedene Anbieter ihre Lösungen aufsetzen können. Das hat zu Wettbewerb um die beste Patientenakte oder die beste App auf Rezept geführt. Dadurch wurde eine unglaubliche Dynamik ausgelöst. Wir haben grundsätzlich den richtigen Weg gewählt. Der hat damit begonnen, dass der Bund die Mehrheit an der Gematik übernommen hat…

… der Gesellschaft für die Telematikinfrastruktur. Auch diese Entscheidung war nicht unumstritten.

Natürlich. Aber ohne Mehrheit in der Gematik wären viele Veränderungen nicht möglich gewesen. Zumal nicht in dieser Geschwindigkeit. Die dortigen Entscheidungsstrukturen waren ja der Grund, warum die Digitalisierung im Gesundheitswesen 15 Jahre nicht wirklich voranging.

Dennoch sind die Widerstände enorm. Erst kürzlich hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung einen einjährigen Digitalisierungsstopp gefordert. Das ist das Gegenteil von Tempo.

So ein Stopp würde ja auch nichts bewirken. Das Jahr Pause würde doch kaum ein Arzt nutzen, um sich an die Digitalisierung zu gewöhnen. Viele würden vielmehr sagen: Kommt noch nicht, muss ich mich erst später drum kümmern. Deswegen lieber sofort einsteigen, das System ständig verbessern, voneinander lernen – und ja, auch helfen. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens bedeutet für Vertragsärztinnen und –ärzte eine große Umstellung. Diese Leistung muss honoriert werden. Wir brauchen einen Digitalpakt für Ärzte. Das ist Aufgabe der nächsten Regierung. Für Investitionen, Schulungen, die Neuorganisation der Praxisalltags sowie IT-Sicherheit in den Praxen muss sie Geld in die Hand nehmen.

Was ist denn Ihrer Meinung die größte Hürde für die Digitalisierung?

Die größte Hürde war, dass der Alltagsnutzen bisher noch nicht erkennbar war. Aber ich bin überzeugt: Sobald die Ärztinnen und Ärzte spüren, dass sie von KI-Software in der Patientenakte unterstützt werden oder dass sie schneller und sicher mit der Apotheke kommunizieren können, steigt die Akzeptanz enorm. Das zweite ist der Datenschutz. Der Bundesbeauftragte für Datenschutz hat die Digitalisierung nicht einfacher gemacht. Da wünsche ich der neuen Koalition eine konstruktivere Zusammenarbeit.

Es gibt einen schwelenden Streit zwischen dem Bundesdatenschützer und den Krankenkassen, ob die elektronische Patientenakte gegen die europäische Datenschutzgrundverordnung verstößt.

Dieser Konflikt  zeigt das ganze Problem rund um den Datenschutz in Deutschland. Statt alltagstaugliche Lösungen zu suchen, wird ein theoretischer Grundsatzstreit um Nichts geführt. Konkret geht es hier um die Frage, ob Patientinnen und Patienten die Einsicht in ihre Daten für einzelne Ärzte ganz oder auch nur teilweise sperren können. Letzteres soll bald zwar möglich sein. Aber am Anfang geht es technisch noch nicht. Darüber nun einen langwierigen Rechtsstreit seitens des Datenschutzbeauftragten zu führen, geht meiner Meinung nach am Patientenalltag völlig vorbei. Die Nutzung der elektronischen Patientenakte ist freiwillig, die Freigabe an eine Ärztin oder einen Arzt ist freiwillig und keiner muss seine Daten teilen. Aber die Patientinnen und Patienten haben das Recht, ihre Daten in ihre ePA übertragen zu bekommen. Statt sich über diesen Fortschritt zu freuen und ihn in den Jahren weiter zu verbessern, wird lieber versucht, jeden kleinen Schritt nach vorne zu verhindern. Alle europäischen Kolleginnen und Kollegen, die in ihren Ländern oft weiter weiter sind, schütteln über diese deutsche Denkweise nur noch den Kopf.

Sie haben dargelegt, wie wichtig der Alltagsnutzen ist. Mit der App auf Rezept gibt es schon ganz konkret ein Angebot, das allerdings noch sehr verhalten angenommen wird. Woran liegt das?

Auch das ist ein Vorurteil und entspricht nicht der Realität. Deutschland hat das App auf Rezept als erstes Land der Welt ermöglicht. Und andere Länder kopieren das. Frankreich zum Beispiel. Natürlich brauchen die digitalen Apps noch Zeit, um sich zu etablieren. Aber die Nutzerzahlen wachsen auch hier ständig. Die Apps müssen sich bei Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten erstmal rumsprechen. Irgendwann erreichen wir bei der Nachfrage dann eine kritische Größe - und die Apps sind nicht mehr aus der Versorgung wegzudenken. Ein neues Medikament braucht auch Monate, bis es im Versorgungsalltag ankommt - selbst, wenn es eine Superinnovation ist.

Die Corona-Pandemie hat die Baustellen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens offengelegt. Das System Sormas nutzen trotz entsprechender Beschlüsse der Ministerpräsidenten noch immer nicht alle Gesundheitsämter. Warum eigentlich?

Eine deutliche Mehrheit der Gesundheitsämter ist an Sormas angeschlossen, viele nutzen es auch. Die Zeit von Software-Königreichen in den einzelnen Bundesländern, die wir vor der Pandemie hatten, ist vorbei. Alle Corona-Meldungen laufen nun elektronisch. Auch das ist eine Zeitenwende, weil alle Gesundheitsämter miteinander vernetzt sind. Aber es stimmt schon: Der Föderalismus macht die Digitalisierung nicht einfacher. Das merkt man jetzt, da sich die Länder und Kommunen auf ein System oder zumindest einen interoperablen Standard einigen müssen, um auch alle Daten zu meldepflichtigen Infektionskrankheiten in Zukunft schnell und einfach auszutauschen. Aktuell sehe ich die Gefahr, dass mit nachlassendem Druck alle wieder nur ihre Welt sehen, trotz all der negativen Erfahrungen in der Pandemie mit Insellösungen. Die Verantwortung dafür ist dann aber klar bei den Ländern zu verorten.

Am Geld scheitert es nicht. Die 800 Millionen für die Digitalisierung der Gesundheitsämter sind bislang noch nicht abgerufen.

Das stimmt. Ich kann das Geld ja als Bund leider verfassungsrechtlich nicht durchreichen an die Kommunen. Das müssen die Länder und die entsprechenden Stellen selber auf die Beine stellen. Aber der Rahmen ist gesetzt. Es muss jetzt gefüllt und das Geld abgerufen werden.

Ein Vorzeigeprojekt der Bundesregierung in der Pandemie war die Corona-Warn-App…

… was heißt war? Die Corona-Warn-App ist ein voller Erfolg, den ich mir auch nicht madig reden lasse.

Kritiker monieren, dass sie wenig gebracht habe bei der Pandemiebekämpfung.

(Spahn holt sein Handy raus und öffnet die WarnApp). Hier, gestern haben 3600 Personen andere gewarnt. Es wurden zig Millionen Testergebnisse über die App an die Nutzer gesendet. Das Integrieren des Impfzertifikats hat noch mal sieben Millionen zusätzliche Downloads gebracht. Mehrere hunderttausend Infektionsketten wurden frühzeitig unterbrochen. Das ist die mit Abstand erfolgreichste staatliche App. Das hat es noch nie gegeben, dass etwas mit so hoher Akzeptanz den Weg auf so viele Handys der Bürger findet.

Bisher kosten die Digitalisierungsprojekte viel Geld. Wann werden sie das Gesundheitswesen effizienter machen?

Das Hauptziel ist aus meiner Sicht, die Behandlungen besser zu machen, etwa durch einen schnelleren Informationsaustausch. Ein zweiter Vorteil wird dann sicherlich auch eine höhere Effizienz sein. Aber wie bei allen digitalen Projekten gibt es zunächst eine Investitionsphase, in der man zusätzliche Mittel aufwenden muss.

Als Gesundheitsminister war eine ihrer ersten Maßnahmen eine Beitragssenkung. Nun geht es nur noch darum, wie viele Milliarden zusätzlich in das Gesundheitssystem fließen müssen, um einen weiteren Anstieg der Kassenbeiträge zu verhindern. Was ist da schiefgelaufen?

Ich könnte es mir einfach machen und auf die Pandemie verweisen. Aber es gibt auch noch eine grundsätzliche Entwicklung, die sich mit der Corona-Erfahrung noch verstärkt hat: Nach meiner Wahrnehmung ist es das Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, ein gut ausgestattetes Gesundheitssystem zu haben. Und das kostet nun mal Geld. Digitale Innovationen kosten Geld. Mehr Pflegekräfte besser zu bezahlen, kostet Geld. Eine flächendeckende gute Versorgung mit Krankenhäusern kostet Geld. Das alles morgens zu fordern und abends über steigende Krankenkassenbeiträge zu meckern, passt nicht zusammen.

Sie haben sich bisher immer dafür ausgesprochen, die Sozialabgaben – und dazu zählen auch Krankenkassenbeiträge – unter 40 Prozent zu halten. Gilt das nicht mehr?

Doch, diese Grenze unterstütze ich ausdrücklich. Deshalb haben wir auch jetzt im Herbst noch den Zuschuss aus dem Bundeshaushalt für den Gesundheitsfonds und die Pflegeversicherung erhöht. Es geht nicht darum, dass bei 40,1 Prozent die Welt zusammenbrechen würde. Aber natürlich weiß jeder, dass es kein Halten mehr geben wird, wenn die Grenze einmal gefallen ist. Dann ist der nächste Stopp frühesten bei 45 Prozent. Es hilft alles nichts: Um die 40 Prozent zu halten, müssen wir den Zuschuss aus dem Bundeshaushalt weiter erhöhen.

Werden wir schleichend zu einem steuerfinanzierten Sozialsystem kommen?

Teilsteuerfinanziert. Das muss aber unter Gerechtigkeitsaspekten nicht falsch sein. Bei den Sozialbeiträgen werden Geringverdiener viel stärker belastet, weil es anders als im Steuersystem keine Freibeträge gibt. Ich habe mich schon lange vor meiner Zeit als Gesundheitsminister dafür ausgesprochen, eine deutliche Entlastung bei den Sozialbeiträgen vorzunehmen und dafür die Steuerfinanzierung auszubauen. Das Grundprinzip halte ich weiterhin für richtig.

Man könnte auch mit Strukturreformen Geld einsparen, etwa einer Krankenhausreform. Warum sind Kostensenkungen tabu?

Ich bin sehr für Strukturreformen. Aber gerade im Gesundheitsbereich sehe ich keine Maßnahmen, mit der sich mal eben 20 oder auch nur zehn Milliarden Euro einsparen ließe. Oder was schlagen Sie vor?

Vielleicht eine Krankenhausstrukturreform.

Ich hätte das auch gerne gemacht, wir hatten schon ein Eckpunktepapier erarbeitet. Aber die ganz große Reform haben wir wegen der Corona-Pandemie nicht mehr anpacken können. Die Krankenhäuser hatten schon genug Stress. Übrigens: Auch Strukturreformen kosten. Anfangs müssen sie immer investieren.

Haben Sie noch eine Empfehlung für Ihren Nachfolger, wie er die Digitalisierung weiter voranbringen kann?

Man muss richtig Lust darauf haben. Wenn es nur ein weiteres Thema ist, was man halt auch noch abarbeiten muss, dann wird es nichts. Und ganz wichtig bei digitalen Vorhaben: Niemals die Antwort „das geht so nicht“ akzeptieren.

Hinweis
Sehr geehrte Damen und Herren, Sie nutzen leider eine Browser-Version, die nicht länger vom Bundesgesundheitsministerium unterstützt wird. Um das Angebot und alle Funktionen in vollem Umpfang nutzen zu können, aktualisieren Sie bitte ihren Browser auf die letzte Version von Chrome, Firefox, Safari oder Edge. Aus Sicherheitsgründen wird der Internet Explorer nicht unterstützt.