Lauterbach: „Pandemien kontrolliert man nicht, man minimiert nur die Folgen“

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach spricht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) darüber, wie lange die Corona-Krise noch dauert und erläutert, warum er kein Verständnis für Pfleger hat, die eine Impfung ablehnen.

27. Januar 2022

FAZ: Herr Minister Lauterbach, wo sind eigentlich Ihre ganzen Fliegen geblieben? Viele Menschen vermissen sie.

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: Die meisten habe ich versteigert, bei einer Spendenaktion. Es gab sehr viele Liebhaber dieser Fliegen. Ich selber habe sie ja nicht mehr getragen- Meine Kinder hatten mir damals geraten, das wirke jünger und dynamischer. Bei der Aktion kam dann auch eine ordentliche Summe zusammen.

Der frühere griechische Premierminister Alexis Tsipras hat in der Schuldenkrise mal gesagt: Erst wenn das Schlimmste vorbei ist, dann ziehe ich meine Krawatte wieder an. Sie könnten das mit Corona und der Fliege ähnlich handhaben.

Ich hoffe, dass ich die Fliege auch dann nicht weitertragen muss. Aber ich will es mal so sagen: Wenn dann die Corona-Krise vorbei wäre, nur weil ich mir wieder ein Fliege umbinde, dann wäre ich in dieser Minute auf dem Weg nach Hause zu meinem Kleiderschrank. Fliege statt Corona – das würde ich machen.

Die Corona-Infektionen steigen gerade rasant, auch die Ministerpräsidentenkonferenz verbreitete wenig Zuversicht. Haben wir die Kontrolle über die Pandemie verloren?

Pandemien kontrolliert man nicht, man minimiert nur die Folgen. Und das ist uns bei der Omikronwelle bisher ganz gut gelungen. Sie hat uns später erreicht als andere Länder und trifft uns bislang weniger hart. Wir fahren derzeit einen relativ konservativen Kurs und versuchen, dass der Anstieg der Fälle abgeflacht wird. Das haben wir mit einem Modell des Robert-Koch-Instituts geplant und die Dinge entwickeln sich im Wesentlichen so wie angenommen. Die Menschen haben derzeit etwa 50 Prozent weniger Kontakte als vor der Pandemie, dazu kommen die Regeln im öffentlichen Raum, das Testregime. Alles ist darauf zugeschnitten, dass man die Zahl der Fälle so entschleunigt, dass die Krankenhäuser nicht zu viele Patienten auf den Intensivstationen versorgen müssen. Deutschland ist gerade mit deutlich niedrigeren Fallzahlen unterwegs als andere europäische Länder, auch die Sterbezahl ist geringer.

Was die Krankenhäuser betrifft, so bemängelte der Expertenrat der Bundesregierung gerade ein „eklatantes Defizit“ bei der Verfügbarkeit aktueller Daten zu coronabedingten Klinikeinweisungen.

Wir haben diese Zahlen, aber sie treffen zeitlich verzögert ein. Diesen Verzug muss man dann hochrechnen, um auf die aktuelle Situation zu kommen. Damit bekommt man eine relativ gute Lageeinschätzung. Trotzdem geht das natürlich besser: Ich habe deshalb zusammen mit der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus und der Deutschen Krankenhaus Gesellschaft Lösungen gesucht, wie wir ohne Zeitverzug an diese Daten kommen. Damit haben wir übrigens schon begonnen, bevor der Expertenrat sich dazu geäußert hat.

Bis wann ist mit einer Lösung zu rechnen?

Ich hoffe, dass wir in der nächsten Woche einen Vorschlag auf dem Tisch haben, wie das gehen kann. Datenschutzrechtlich ist das zwar nicht ganz einfach. Aber in dieser Phase der Pandemie wäre das schon hilfreich: Wenn die Infektionszahlen nur langsam steigen, spielt der Verzug keine so große Rolle. Aber wenn die Zahl sich innerhalb von einer Woche verdoppelt, so wie jetzt unter Omikron, dann sind sieben Tage eine Ewigkeit.

Die Spitze der Omikron-Welle ist noch nicht erreicht, wann wird das sein?

Ich gehe davon aus, dass wir Mitte Februar die höchsten Zahlen haben, nach der Modellierung des RKI rechne ich dann mit bis zu 400.000 Ansteckungen pro Tag. Die Zahl der Sterbefälle ist schwer zu schätzen - es kommt darauf an, wie gut es uns gelingt, die Älteren von dem Virus zu schützen. Das hat bislang übrigens insgesamt gut geklappt. Die Kritik, dass wir in Deutschland nicht gut durch die Pandemie kommen, ärgert mich. Wir haben die zweitälteste Bevölkerung in Europa und dort noch mit zwölf Prozent einen hohen Anteil an Ungeimpften. Diese besonders gefährdete Gruppe vor Infektionen abzuschirmen, ist keine Kleinigkeit.

Als Grundlage politischer Entscheidungen nutzt Deutschland oft Daten aus anderen Ländern wie Dänemark, Israel und den Vereinigten Staaten. Wie kann es gelingen, eine eigene Entscheidungsgrundlage aufzubauen?

Zunächst: die Daten anderer Länder sind durchaus auch für gute Modelle und Prognosen für Deutschland nutzbar. Klar ist aber, wenn wir Daten zur Situation in unseren Krankenhäusern tagesaktuell haben, wird das Bild besser. Das wäre übrigens einfach lösbar, wenn jetzt schon die elektronische Patientenakte flächendeckend genutzt würde. Die Einführung läuft aber viel zu langsam. Und das, obwohl die verschiedenen Bundesregierungen schon seit 2003 daran arbeiten.  Damit sich das ändert, werde ich jemanden ins Haus holen, der sich mit Digitalisierung sehr gut auskennt und dann eine entsprechende Dynamik entwickelt. Ich möchte die Personalie jetzt noch nicht nennen, das muss ja auch genehmigt werden. Aber es wird schon eine wesentliche Verstärkung sein.

Sie sagen, Deutschlands Corona-Strategie sei gut. Fakt ist aber auch, dass wir zu wenige PCR-Testkapazitäten haben. Sie wollen die Tests jetzt priorisieren, die Menschen sind verunsichert.

Was das angeht, habe ich so den Eindruck, dass die Coronapolitik in Parteipolitik abgleitet. Das bedauere ich sehr, das wäre eine wesentliche Verschlechterung. In diesem Zusammenhang scheint mir nämlich die Kritik an den Plänen zu stehen, die PCR-Tests zu priorisieren. Dazu haben wir jetzt keine Alternative. Ein gepooltes Testen wie z.B. in Wien kann man nicht über Nacht einführen. Zu Beginn der Pandemie habe ich einen Vorschlag gemacht, wie man die Menge der Tests einfach verfünffachen kann, da saß noch mein Vorgänger in diesem Büro. Aber ein solches Pooling einzuführen, braucht Zeit. Das hilft uns jetzt nicht mehr in der akuten Situation. Also muss es einen anderen Weg geben, um das Problem zu lösen. Und das können wir auch. Ich arbeite gerade an einer neuen Testverordnung, in der viele PCR-Tests durch Antigentests ersetzt werden. Für sehr viele Testanlässe ist der Antigentest jetzt optimal geeignet, weil er zuverlässig funktioniert und die Ergebnisse schneller vorliegen als bei PCR-Tests.

Antigentests gelten als weniger zuverlässig. Ist das nicht ein Problem?

Es kommt darauf an, wofür man sie verwendet. Wenn jemand infiziert war und sich aus der Isolation freiesten will, erkennt der Test sehr gut, ob das möglich ist. Gerade zu Beginn einer Infektion hat der Antigentest aber Schwächen, in den ersten zwei Tagen schlagen die Tests nicht bei jeder Infektion an. In Situationen, in denen man eine Ansteckung auf keinen Fall zu spät bemerken darf, sind daher PCR-Untersuchungen sehr wichtig. Ich denke da zum Beispiel an Personen, die im medizinischen Bereich arbeiten. Wenn da der Test negativ, die Person aber positiv ist - das geht nicht.

Es gibt auch einen Markt für freiwillige PCR-Untersuchungen: Wer mehr zahlt, bekommt das Ergebnis schneller - zum Beispiel für Reisen oder Besuche bei Verwandten. Werden solche Angebote weiter Bestand haben?

Letztlich müssen wir sehen, wie sich die Fallzahlen entwickeln und wie viele Tests wir für die sensiblen Bereiche benötigen. Da finden gerade komplizierte Berechnungen statt. Und wir müssen das ja auch mit den Ländern abstimmen. Die Labore schaffen etwa 2,8 Millionen PCR-Tests pro Woche.

Die Abstimmung Ihres Ministeriums mit dem RKI lief mehrfach nicht rund: Im Dezember veröffentlichte die Behörde eine Einschätzung, die der Sicht des Expertenrats widersprach, jetzt der Streit um die Verkürzung des Genesenenstatus. Sitzt RKI-Chef Lothar Wieler noch fest im Sattel?

Die Zusammenarbeit mit dem RKI funktioniert gut und dort macht man großartige Arbeit. Dass es Kommunikationsprobleme gegeben hat, steht außer Frage. Aber das stellen wir jetzt ab. Dass der Genesenenstatus jenseits der Quarantäneregeln quasi über Nacht auf drei Monate verkürzt wurde – davon war ich nicht unterrichtet. Der fachlichen Beurteilung stimme ich gleichwohl zu, weil es möglich ist, dass jemand, der mit Delta infiziert war, sich auch mit Omikron bereits nach fünf Monaten anstecken kann. Um das klar zu sagen: Entscheidungen wie diese würde ich auch in Zukunft nicht stoppen, die Wissenschaft muss unabhängig bleiben und ist Grundlage meiner Arbeit. Nur das Timing von solchen Entscheidungen und die Vorbereitung darauf müssen besser werden. Wir haben aber einen Weg gefunden, solche Probleme in Zukunft zu vermeiden.

Wusste denn Herr Wieler selbst nicht, was seine Behörde beabsichtigt? Oder warum hat er Ihnen nichts gesagt?

Wir haben ein Gesetz verabschiedet, dass aus Empfehlungen des RKI Vorgaben macht. Solche Vorgaben brauchen mehr Erklärung als richtige, aber unverbindliche Empfehlungen.

Mitte März soll die Impfpflicht in Krankenhäusern und Pflegeheimen greifen, doch in den Ländern formiert sich Widerstand. Werden Sie die Einführung verschieben?

Das kommt für uns nicht in Frage. Das Gesetz gilt. Es geht dabei um den Schutz derer, die besonders gefährdet sind. Vor einem Jahr hatten wir das Problem, dass ohne Not viele Menschen in den Pflegeheimen gestorben sind, weil nicht entschlossen genug reagiert wurde. Das darf sich auf keinen Fall wiederholen. Deswegen lehne ich eine Verschiebung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht strikt ab. Was die konkreten Probleme betrifft - also wie damit umzugehen ist, wenn Personal ausfällt -, da kann der Bund den Ländern helfen, ein einheitliches Vorgehen zu bestimmen. Was nicht geht, ist, dass die Impfpflicht in Pflegeheimen eines Landes gilt, ein paar Kilometer weiter aber nicht.

Viel Zeit für eine Einigung bleibt nicht mehr.

Deswegen ist das eines der Themen, die wir mit den Ländern wirklich intensiv besprechen.

Sehen Sie die Gefahr, dass die Pflege mancherorts zusammenbricht, wenn Ungeimpfte die Einrichtungen nicht mehr betreten dürfen?

Das glaube ich nicht. Es wird natürlich so sein, dass der eine oder andere radikale Impfgegner, der in der Pflege arbeitet, dann aussteigt. Dann stellt sich aber ohnehin die Frage, ob die Person für den Beruf überhaupt geeignet war. Dass medizinisches Personal wissenschaftliche Erkenntnisse leugnet und sogar bereit ist, Patienten zu gefährden, kann nicht sein. Ich glaube aber, dass die Widerstände unter Pflegekräften am geringsten sind. Viele Einrichtungen schauen da eher auf Küchen- und Reinigungspersonal, auf die Verwaltung.

Wann kommt die neue Pflegeprämie und wie hoch wird sie ausfallen?

Sobald wie möglich. Mein Haus arbeitet mit Hochdruck an der Umsetzung.

Viele Menschen fragen sich, wie lange ihr Immunschutz nach dem Boostern anhält und für wen ein auf Omikron zugeschnittener Impfstoff in Frage kommt. Was sagen Sie denen?

Daten der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC zeigen, dass das Risiko, tödlich an Covid-19 zu erkranken, nach einer Booster-Impfung um 99 Prozent verringert ist, verglichen mit Ungeimpften. Und darauf kommt es an. Was genau eine vierte Impfung bringt, dazu laufen einige Studien. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass wir den angepassten Biontech-Impfstoff Ende April bis Anfang Mai im Markt haben werden. Das hängt davon ab, wie die aktuelle Zulassungsstudie läuft. Zudem arbeitet Moderna an einem Impfstoff, der gegen mehrere Varianten schützen soll. Ein Problem ist, dass viele Menschen jetzt denken, wenn Omikron irgendwann durch ist, ist im Herbst alles gut. Aber es kann durchaus sein, dass wir wieder eine Welle der Ansteckungen bekommen, wenn es uns jetzt nicht gelingt, eine Impfpflicht durchzusetzen und so die Impflücken zu schließen.

Für viele scheint der Übergang in die endemische Phase das erhoffte Ende von Corona zu sein. Bedeutet Endemie, dass das Virus die Gesellschaft vor keinerlei Herausforderungen mehr stellt?

Endemie kann viel bedeuten. Im besten Fall wird das Virus harmloser und löst nur noch kleine und lokal begrenzte Ausbrüche aus. Doch ob das passiert, weiß niemand. Wir können auch in eine Endemie geraten, in der eine sehr gefährliche Variante dominant ist, gegen die wir die Schwachen weiter mit großem Aufwand schützen müssen. Wie sich das Virus entwickelt, kann niemand vorhersagen. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.

Dabei klingt der Satz so plausibel: Kein Virus kann ein Interesse daran haben, seinen Wirt zu töten.

Ja, das ist so ein Gassenhauer. In der Literatur gibt es Stimmen, die sagen, dass es so sein kann. Muss es aber nicht. Das sind keine Gesetzmäßigkeiten. Corona kann sich in Richtung „Omikron minus“ oder „Delta plus“ entwickeln. Ich will ja nun wirklich kein Schwarzmaler sein, aber die Idee, dass Corona sich von selbst zum harmlosen Erkältungsvirus verwandelt, ist Wunschdenken.

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