Spahn: "Geld ist nicht der entscheidende Faktor"

Prävention u. Aufklärung müssten vor allem in sozial schwächeren Schichten intensiver gefördert werden, mahnt Bundesgesundheitsminister Spahn im Doppelinterview mit Prof. Dr. Allmendinger. Das Interview führten A. Dowideit und D. Siems, Die Welt.

Prävention und Aufklärung müssten vor allem in sozial schwächeren Schichten intensiver gefördert werden, mahnt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Doppelinterview mit Prof. Dr. Jutta Allmendinger. Das Interview führten Anette Dowideit und Dorothea Siems, Die Welt vom 05.04.2019.

DIE WELT: Herr Minister Spahn, stellen Sie sich bitte vor, Sie hätten einen Zwillingsbruder, von dem Sie nach der Geburt getrennt wurden – und der in einer Familie in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen wäre. Denken Sie, der genetisch identische Bruder wäre heute ebenso gesund und fit wie Sie?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Das ist eine sehr hypothetische Frage. Natürlich hängt Gesundheit mit vielen sozialen Faktoren zusammen, vor allem auch mit dem familiären Umfeld. Es macht einen Unterschied, ob Sie von Kindesbeinen an mitbekommen, dass es auf Bewegung und gute Ernährung ankommt und dass es Spaß macht, nicht den ganzen Tag drinnen vor dem Fernseher, dem Computer oder dem Smartphone zu hocken. Klar ist aber auch, dass nicht der Geldbeutel der entscheidende Faktor für das Gesundheitsbewusstsein ist, sondern die Bildung.

Frau Professorin Allmendinger, ärmere Menschen sind häufiger gesundheitlich beeinträchtigt. Ist das ein soziales Problem?

Jutta Allmendinger: Ja, und daher war die Frage an den Minister auch alles andere als hypothetisch. Die Wissenschaft zeigt eindeutig, dass die soziale Lage und die Gesundheit von Menschen zusammenhängen. Das Muster gleicht Orgelpfeifen: Je höher das Einkommen, desto höher die Lebenserwartung. Bei Frauen beträgt der Unterschied zwischen niedrigster und höchster Einkommensgruppe etwa viereinhalb Jahre, bei Männern liegt er bei rund achteinhalb Jahren. Bei der Bildung ist es ebenso. Außerdem spielt der Wohnort eine wichtige Rolle für die Gesundheit. Menschen, die in Stadtteilen mit hoher Luftverschmutzung oder Lärmbelastung  leben, haben eine geringere Lebenserwartung. Da Bildung, Einkommen und Wohnumgebung stark zusammenhängen, würde der ärmere Zwillingsbruder von Herrn Spahn wesentlich eher an Übergewicht, Diabetes oder Depressionen leiden. Diese Erkenntnis ist alles andere als neu. Die Politik muss daher deutlich mehr tun, um die soziale Ungleichheit abzubauen. Stattdessen steigt sie immer mehr.

WELT: Und was kann man tun?

Spahn: Wir müssen uns zunächst fragen, warum die soziale Herkunft einen Einfluss auf die Gesundheit hat. Geld ist meiner Überzeugung nach nicht der entscheidende Faktor. Man kann auch mit einem kleinen Einkommen Sport treiben, sich gesund ernähren und an den Vorsorgeprogrammen der Krankenkassen teilnehmen. Doch oft fehlt es an dem nötigen Wissen. Deshalb muss man bei der Prävention ansetzen. Und das wird zunehmend auch gemacht. In den Kindergärten und Schulen gibt es mittlerweile richtig gute Ansätze. Vielerorts begleiten Familienhebammen Eltern in schwierigen Lebenslagen vor und nach der Geburt eines Kindes und über einen längeren Zeitraum. Sie geben auch Tipps, was Babys brauchen, wie sie ernährt werden sollten, dass gerade Kleinkinder Bewegung benötigen. Das hilft für einen gesunden Start ins Leben.

Allmendinger: Mir geht das nicht weit genug. Neben Bildung und Einkommen spielt ja auch die Sprache eine große Rolle. Viele Informationen liegen nur auf Deutsch vor. Das muss sich ändern. Und die aufsuchende Prävention darf nicht auf Hebammen beschränkt bleiben. Beraterinnen und Berater müssen besonders gefährdete Familien und deren Kinder über einen längeren Zeitraum begleiten. Am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung haben wir gerade eine Forschungsgruppe gegründet, die sich mit diesen Fragen beschäftigt.

Obwohl wir heute mehr öffentliche Präventionsmaßnahmen als früher haben, geht die Schere bei den Gesundheitschancen weiter auseinander. Warum gelingt die Befähigung zum gesundheitsbewussten Leben oft nicht?

Allmendinger: Viel entschlossener als bisher müsste man die Ursachen abbauen: die Bildungsarmut, die riesigen finanziellen Unterschiede, die immer größer werdenden Unterschiede zwischen Stadt und Land.  Wir brauchen deshalb auch flächendeckend verpflichtende Ganztagsschulen, die ein gesundes Mittagessen anbieten, Gesundheitsprävention in ihr Curriculum aufnehmen und den Sportunterricht wieder viel ernster nehmen.  

Spahn: Hier sind wir in den vergangenen Jahren schon ein großes Stück vorangekommen. Im Jahr 2000 gab es im Münsterland, wo ich herkomme, überhaupt keine Ganztagsschule. Mittlerweile wurde das Angebot massiv ausgebaut, und die Familien habe heute die freie Wahl. Auch gibt es viel mehr Kitas. Kinder essen somit häufiger in den Einrichtungen. Die Richtung stimmt also – auch wenn ich akzeptiere, dass wir noch mehr machen müssen. Für gute neue Ideen bin ich immer zu haben.

Planen Sie denn konkrete Maßnahmen zur besseren Prävention?

Spahn: Manche Bundesländer fordern, dass die Krankenkassen in Zukunft den Sportunterricht finanzieren. Das wird nicht gehen. Ich will, dass die Krankenkassen wegkommen von Präventionsangeboten wie Yoga-Kursen, mit denen dann nur groß geworben wird. Denn solche Angebote werden vor allem von denen genutzt, die ohnehin schon gesundheitsbewusst leben. Stattdessen sollten die Krankenkassen viel stärker mit kommunalen und regionalen Einrichtungen zusammenarbeiten, um gemeinsam Prävention zu betreiben. Zum Beispiel, indem sie gesundes Mittagessen organisieren, Schulungen zur Förderung des Gesundheitsbewusstseins anbieten oder Lehrgänge für Erzieherinnen und Erzieher und Lehrerinnen und Lehrern durchführen. Wichtig ist, die Menschen besser in ihrem Alltag zu erreichen. Das betrifft dann auch die betriebliche Gesundheitsförderung. Ein solcher Ansatz in der konkreten Lebenswelt bringt meist viel mehr als eine Individual-Prävention. Genau das ist auch die Idee des Präventionsgesetzes. Im Sommer werden wir hier eine Bilanz ziehen. Dann entscheidet sich, ob wir noch stärker umsteuern müssen.

Allmendinger: Eine Individual-Prävention ist meines Erachtens zwingend, da gerade die besonders gefährdeten Kinder von freiwilligen Angeboten am wenigsten Gebrauch machen und Gebrauch machen können. Sie kommen erst gar nicht in gute Kitas und Schulen, oft aus Unwissen, oft aufgrund sozialer Barrieren. Wir brauchen ganz gezielt eine aufsuchende Hilfe.

Spahn: Das stimmt. Aber wir müssen Prävention auch einfordern. Für Kinder sind in den ersten Lebensjahren etliche Vorsorgeuntersuchungen vorgesehen. Wenn die Eltern Termine versäumen, wird in fast allen Bundesländern sofort erinnert und nachgefasst. Der Erfolg kann sich sehen lassen. In den letzten zehn Jahren hat die Teilnahme an den Kindergesundheitsuntersuchungen deutlich zugenommen. Inzwischen erreichen wir mit nahezu jeder Untersuchung über 98 Prozent der Kinder. Ein wichtiger Schritt war auch, dass wir die Impfberatung zur Voraussetzung für den Kita-Besuch gemacht haben.

Allmendinger: Ich bleibe dabei: Wir brauchen neben den ärztlichen Pflichtterminen eine aufsuchende Begleitung der Risikofamilien. Dabei müssen wir weit über die ersten Lebensjahre hinausgehen. Auch um es endlich zu schaffen, dass alle Kinder und Jugendlichen einen Schul- und Ausbildungsabschluss erreichen. Noch immer sind 17 Prozent bildungsarm.

Neben der sozialen Lage spielt auch der individuelle Lebensstil eine große Rolle für die Gesundheit. Ob Rauchen, Alkoholexzesse, Bewegungsmangel oder übermäßiges Essen – auch viele Gutsituierte treiben Raubbau mit ihrer Gesundheit. Sollte die Politik nicht mehr Eigenverantwortung verlangen? In der Zahnmedizin ist heute selbstverständlich, dass derjenige, der nicht regelmäßig zur Vorsorge geht, bei Zahnersatz eine höhere Eigenbeteiligung hat. Ein Modell auch für andere Bereiche?

Spahn: Das ist ein schwieriges Feld. Aus meinem christlich geprägten Menschenbild heraus gehört es für mich dazu, zu akzeptieren, dass der Mensch sich nun mal ab und zu in Versuchung führen lässt. Dann gibt es abends eben den Schokoriegel, dem man nicht widerstehen kann, obwohl man weiß, dass es besser wäre, ihn nicht zu essen. Das kenne ich von mir selbst. Wir sollten nicht dahinkommen,  das Menschsein mit seinen Schwächen am Ende zu bestrafen. Ich bevorzuge den Ansatz: Informieren, aufklären und Anreize setzen, um gesundheitsbewusstes Verhalten zu fördern. So ist es auch beim Zahnersatz. Da erhalten Sie höhere Zuschüsse, wenn Sie regelmäßig zur Vorsorge gehen. Tatsächlich ist die regelmäßige Zahnkontrolle eines der erfolgreichsten Programme, das die meisten Menschen vollkommen verinnerlicht haben. Und zwar, weil sie wissen, dass sie weniger zahlen müssen. Wir sollten überlegen, ob wir auch mehr Anreize mit Blick etwa auf die Krebsvorsorge und Früherkennung brauchen. Viele Kassen bieten ihren Versicherten hier ja auch schon Programme an. Die vielen Angebote der Krankenkassen zur Vorsorge werden von der Bevölkerung aber noch zu wenig angenommen.

Könnte man das noch ausweiten und etwa auch sportliche Aktivität mit einem Beitragsrabatt belohnen?

Spahn: Ich finde das schwierig, denn wo will man die Grenze ziehen? Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr Daten erhoben werden. Und das wird noch deutlich zunehmen. Soll eine Krankenkasse wissen, wie viel wir uns bewegen und wie wir uns sonst so fühlen? Es gibt bereits Apps, die anhand der Stimme feststellen können, in welcher psychischen Verfassung jemand ist. Wir müssen auf eine sinnvolle Balance achten. Auf der einen Seite sind Anreize für ein gesundheitsbewusstes Verhalten sinnvoll. Auf der anderen Seite aber sollten wir in den Sozialversicherungen nicht anstreben, jedes Fehlverhalten des Einzelnen zu erfassen und ihn jeden Fehler finanziell spüren zu lassen. Ich höre mitunter Forderungen, dass die Krankenkassen Rauchern die Krebsbehandlung nicht mehr zahlen sollten, weil die Krankheit schließlich selbstverschuldet wäre. Das wäre absurd. Denn zu Ende gedacht, wäre dies das Ende der Sozialversicherung.

Allmendinger: Erlauben Sie mir mehrere Kommentare. Zunächst wissen wir aus vielen Studien, dass es eben nicht nur auf das individuelle Gesundheitsverhalten ankommt. Krankheiten hängen auch von genetischen Faktoren ab. Ich finde es auch schwierig, das Gesundheitsverhalten von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft über einen Kamm zu scheren. Die Sozialisation spielt doch eine riesige Rolle, man kann sich nicht einfach von ihr befreien. Und auch die Jobs spielen eine große Rolle. Sie beeinflussen die Gesundheit in ganz unterschiedlicher Weise. Wenn wir unter Hinweis auf die Eigenverantwortung Verhaltensweisen finanziell belohnen oder bestrafen, obwohl das Verhalten nur einen Teil der Gesundheit erklären kann, gehen wir ein verdammt hohes Risiko ein: das Risiko der Entsolidarisierung. Die Daten unserer Vermächtnisstudie zeigen das glasklar.

Wenn es um die richtige Balance zwischen der Eigenverantwortung und dem Solidargedanken geht, steht dahinter immer die Frage: Welche Gesundheitskosten des Einzelnen dürfen auf die Allgemeinheit umgelegt werden? Vor ein paar Wochen machten Sie, Minister Spahn, eine Ankündigung, die in diesem Zusammenhang für viele Diskussionen sorgte: Künftig soll Fettabsaugung auf Krankenkassenkosten möglich sein.

Spahn: Da ist schon die Zusammenfassung falsch. Der Begriff Fettabsaugung suggeriert, da habe jemand zu viel Pommes gegessen, jetzt sauge man ihm Fett ab und dann werde es schon wieder gehen. Das Lipödem aber, um das es hier geht, ist eine krankhafte Fettverteilungsstörung. Diese Krankheit bedeutet eine enorme psychische und körperliche Belastung. Es geht darum, in einem fortgeschrittenen Stadium unter gewissen Umständen eine Fettabsaugung zu übernehmen. Die Debatte klang aber so: Jetzt will der Bundesgesundheitsminister Schönheitsoperationen auf Kassenkosten genehmigen. Nein, will er nicht.

Allmendinger: Inhaltlich finde ich diesen Schritt durchaus sinnvoll. Diese Operationen sind teuer. Es ist gut, wenn soziale Unterschiede abgebaut werden und sich nicht nur reiche Frauen oder Privatpatientinnen die Behandlung leisten können. Merkwürdig fand ich allerdings, dass Sie als Minister diese Entscheidung zunächst auf eigene Faust treffen wollten, vorbei an der Selbstverwaltung und an der Wissenschaft.

Spahn: Manchmal ist es sinnvoll, dass wir als Politik über konkrete Leistungen im Gesundheitswesen entscheiden. Es passiert äußerst selten, aber wenn wir es tun – und das tut der Bundestag, das mache nicht ich als Minister –, dann, weil wir den betroffenen Patienten möglichst schnell helfen möchten. Wir haben zum Beispiel gerade dafür gesorgt, dass junge Erwachsene, die an Krebs erkrankt sind, auf Krankenkassenkosten Ei- oder Samenzellen einfrieren können, damit sie später noch Kinder bekommen können. Beim Thema Lipödem allerdings haben Sie nicht Recht, Frau Allmendinger. Da hat die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen an unserer Lösung mitgearbeitet.

Wie stark darf oder muss sich denn der Staat in die individuelle Lebensführung einmischen? Stichwort Impfen. Sollten wir für gewisse Krankheiten eine Impfpflicht einführen?

Spahn: Beim Impfen geht es ja nicht nur um die Gesundheit des Einzelnen, sondern um das übergeordnete Ziel, Krankheiten weltweit auszurotten. Kinderlähmung zum Beispiel oder Masern. Die Ausrottung der Masern scheitert bisher kurioserweise eher an den Industrieländern als an den Entwicklungsländern. Und natürlich: Ein Kind, das nicht geimpft ist, gefährdet spätestens im Kindergarten nicht nur sich, sondern auch andere – etwa kleine Kinder, die noch nicht geimpft werden können. Wir hatten ja früher schon Impfpflichten in Deutschland, und Frankreich hat gerade eine solche eingeführt. Ich finde, beim Thema Masern können wir uns die steigenden Infektionszahlen in Europa jedenfalls nicht mehr lange anschauen.

Brauchen wir also eine Impfpflicht?

Spahn: Ich persönlich, auch als Onkel und Patenonkel von zwei wunderbaren Jungs im Kleinkindalter, bin für die Impfpflicht. Als Minister weiß ich aber auch, dass das ein Eingriff in das Elternrecht ist. Eine Regelung muss auch praktisch durchsetzbar sein. Vor diesem Hintergrund werden wir die Masern-Impfpflicht in der Koalition jetzt ernsthaft diskutieren und dann entscheiden.

Allmendinger: Ich finde erstaunlich, dass wir über Impfungen gegen Krankheiten wie Masern überhaupt noch diskutieren. Die Wissenschaft ist in diesem Punkt eindeutig. Gerade bei Masern ist der Nutzen von Impfungen hoch, die Risiken sehr klein. Wenige Impfgegner bestücken die sozialen Medien mit Falschmeldungen und haben damit großen Erfolg. Sie verunsichern ungemein. Wäre ich Ministerin, ich würde für eine Impfpflicht eintreten.

Wenn wir über die Frage sprechen, wie stark Gesundheitspolitik in die Freiheit des Einzelnen eingreifen darf, geht es oft auch um Ernährung: Zuckersteuer, Verbote – sind solche staatlichen Eingriffe für Sie moralisch vertretbar?

Allmendinger: Der Schwerpunkt der Politik muss auf noch viel konsequenterer Aufklärung liegen: Welche Ernährung hat welche Folgen? In Großbritannien sind Produkte viel deutlicher auf ihre Nährwerte hin ausgezeichnet als hier. Dieser Weg muss entschlossener und schneller verfolgt werden. Das Wissen über Ernährung auszubilden, ist der Schlüssel zum Erfolg. Außerdem wissen wir, dass Belohnungen mehr bringen als Verbote.

Spahn: Da stimme ich zu. Schweden zum Beispiel hat den Alkohol stark verteuert, um den Konsum einzuschränken. Das wirkt aber nur bedingt. Sie brauchen nur mal die Fähre von Schweden nach Dänemark zu besteigen, dann sehen Sie, wie die Schweden die hohen Preise kompensieren. Auch bei Verboten bin ich skeptisch. Wir diskutieren gerade wieder das Tabakwerbeverbot. Natürlich ist Rauchen sehr schädlich, aber der Christdemokrat in mir sagt: Wir können den Leuten nicht alles vorgeben. Wir brauchen alle in einem Boot: Die Hersteller von Nahrungsmitteln müssen ebenso Verantwortung übernehmen wie jeder Einzelne. Das gilt bei Tabak und Alkohol ebenso wie bei Zucker und Fett.

Und wie stark darf der Staat sich in die Frage einmischen, ob eine Frau ihre Schwangerschaft abbricht?

Spahn: Dafür müssen wir beides bedenken: Den Schutz des ungeborenen Lebens und die individuellen Folgen für die betroffene Frau. Manche sagen, die Föten wären noch kein Leben – ich sehe das entschieden anders. Mich trifft es als Christ und Mensch, wenn das Recht des ungeborenen Lebens in dieser Debatte keine Rolle spielt. Die Regierungsparteien haben vereinbart, dass in einer Studie die seelischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen untersucht werden sollen. Die Folge dieser Forschungsarbeit wird aber in keinem Fall sein, Schwangerschaftsabbrüche wieder zu bestrafen. Die aktuelle Regelung ist der mühsam errungene gesellschaftliche Konsens, den ich voll und ganz mittrage.

Allmendinger: Es ist gut zu hören, dass Sie nicht daran denken, Schwangerschaftsabbrüche wieder zu bestrafen. So deutlich ist das von Ihnen selten zu hören. Auch gegen die 5-Millionen-Studie habe ich nichts, obwohlForschungsarbeiten aus den USA und auch für Deutschland bereits darauf hindeuten, dass Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließen, kein höheres Risiko haben, an psychischen Problemen zu leiden. Die neue Studie muss zwingend vor der Schwangerschaft ansetzen, damit eventuelle psychische Folgen auch kausal auf den Abbruch bezogen werden können, und sie muss fragen, was passiert, wenn Frauen trotz größter Bedenken nicht abgetrieben haben. Im Moment scheint mir die Studie viel zu einseitig abgelegt.

Spahn: Die Studien wurden alle in anderen Ländern gemacht, in anderen Kontexten. Das wird eine ergebnisoffene, wissenschaftliche Studie. Wenn herauskommt, Schwangerschaftsabbrüche bereiten keine psychischen Probleme, dann ist das das Ergebnis. Und ansonsten wüssten wir, ob wir den Frauen besser helfen müssten. Und Sie haben Recht: Wir müssen in der Beratungsarbeit viel früher ansetzen, also bevor es überhaupt zu einer ungewollten Schwangerschaft kommt.

Allmendinger: Ich verstand übrigens nie, warum sich Schwangere, die abtreiben wollten, nicht einfach auf der Homepage einer Ärztin oder eines Arztes informieren durften, ob Abbrüche vorgenommen werden.  

Spahn: Das haben wir gerade in der Koalition geregelt. Klar ist: Künftig kann die Ärztin oder der Arzt auf der Homepage angeben, ob in der Praxis Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden.

Allmendinger: Leider muss man aber noch immer in der Praxis anrufen, um sich über Methoden, Risiken und Preise zu erkundigen.

Was in Deutschland dagegen erlaubt ist, und zwar noch sehr spät in der Schwangerschaft, ist die Abtreibung schwer behinderter Kinder. Es gibt immer mehr Möglichkeiten, diese Schädigungen früh zu erkennen. Werden in Zukunft überhaupt noch behinderte Kinder geboren werden?

Spahn: Aber sicher. Es hängt nicht davon ab, welche Gendiagnosen möglich sind. Sondern darauf, welches gesellschaftliche Klima wir schaffen, damit Menschen mit Behinderung ein gutes Leben haben.

Allmendinger: Wissen darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Das gilt auch für das Wissen von Eltern mit erblichen Vorbelastungen darüber, ob das eigene Kind  eine genetische Krankheit hat. Die ethischen Fragen wurden vor einigen Jahren im Bundestag breit diskutiert und entschieden. Jetzt geht es um die soziale Frage. Zudem muss man wissen, dass wir über einen sehr kleinen Personenkreis Betroffener mit Vorbelastung sprechen. Die Diskussion, ob PID von der Krankenkasse bezahlt wird oder nicht, finde ich daher nicht nachvollziehbar. Was wir aber  brauchen, ist den intensiven und breiten  öffentlichen Diskurs, ab wann man von Leben spricht. Dieser Diskurs wird immer wichtiger und er hinkt den von der Medizin geschaffenen Möglichkeiten hinterher. Erst kürzlich gab es ein internationales Moratorium von Genforschern und Ethikern, die dazu aufriefen, Eingriffe in die menschliche Keimbahn vorerst zu unterlassen.

Beängstigt es Sie beide, dass man heute auch sein eigenes Genom auslesen kann und so erfährt, welche Erbkrankheiten in einem schlummern?

Spahn: Ich selbst habe es bisher nicht gemacht, aber ich könnte es mir schon vorstellen. Entscheidend ist, dass ein Arzt das dann entsprechend einordnet, damit es beim Patienten keine irrationalen Ängste auslöst. Denn wie reagiert man, wenn bei einer Untersuchung zum Beispiel herauskommt, dass man ein Risiko von 30 Prozent hat, an Darmkrebs zu erkranken?

Allmendinger: Mein Sohn findet diese Genanalysen gut. Ich lasse sie nicht durchführen. Die repräsentative Vermächtnisstudie zeigt, dass sich 23 Prozent der Befragten Untersuchungen unterziehen würden, um Erkrankungsrisiken zu erfahren. Aber von individuellen Befindlichkeiten abgesehen: Entscheidend ist der Datenschutz. Wie stellt man sicher, dass die Kindeskinder nicht gegen ihren Willen an meine genetischen Informationen kommen? Wie stellt man sicher, dass die Daten nicht an private Krankenkassen gelangen, Krankenkassen, die Beitragszahlungen von der genetischen Disposition abhängig machen könnten.

Herr Spahn, Sie haben sich kürzlich mit einer Aussage zu einem anderen Zukunftsthema hervorgewagt, die viele bewegt hat: dass der Krebs in 20 Jahren besiegt sei. Wie meinten Sie das?

Spahn: Mit besiegen meine ich beherrschen. Also: den Krebs in den Griff zu bekommen. Erstens durch Aufklärung, zumal 30 bis 40 Prozent der Krebserkrankungen auf Verhaltensweisen zurückgehen, etwa auf Rauchen, schlechte Ernährung und einen Mangel an Bewegung. Dann durch einen Ausbau der Früherkennung, den wir schaffen wollen, indem wir die Leute gezielt zu Untersuchungen einladen. Und drittens natürlich mit neuen Behandlungsmethoden. Die Medizin macht hier gerade enorme Fortschritte. Es sagen immer alle: Wir wollen den Krebs bekämpfen. Ich sage: Wenn ich einen Kampf führe, dann will ich ihn auch gewinnen. Andere fliegen zum Mond.

Allmendinger: Ich halte das aufgrund der biologischen Vielfalt von Krebs für utopisch.  Ich halte die Aussage auch für problematisch. Überspitzt gesagt: Ihr könnt jetzt ruhig rauchen, in 20 Jahren bekommen wir das schon in den Griff. An dieser Stelle darf ich aber eine dringende Bitte loswerden: Es gibt so viele gute Daten: Wir haben Informationen in den Patientenakten, die Krankenkassen schwimmen in Daten. Die Sozialforschung hat Geoinformationen und könnte zudem Einstellungen erheben. Wenn man all diese Quellen anonymisiert zusammenfügen würde, könnte man präventiv so viel mehr als bislang tun. Da muss sich zum Wohle der Menschen viel bewegen. 

Spahn: Da setzte ich gern auf Ihre Unterstützung in der öffentlichen Debatte, die demnächst auf uns zukommt – wenn ich im Laufe dieses Jahres den Entwurf für unser geplantes Gesetz zum Umgang mit Daten im Gesundheitswesen vorlege. Ich will unbedingt, dass wir die Daten, die wir besitzen, besser auswerten. Aber ich weiß jetzt schon, dass in der Hysterie, die um unsere Daten in diesem Land herrscht, es manche Diskussion geben wird.

Es gibt also durchaus Hoffnung, dass wir in Zukunft deutlich länger leben. Wie alt wollen Sie beide werden?

Spahn: Ich möchte gern 110 werden, möglichst gesund, und dann einfach morgens nicht wieder wach werden.

Allmendinger: Ich habe keine Vorstellung, wie alt ich werden will. Ich möchte einen selbstbestimmten Tod haben. Ich wünsche mir ein System, in dem ich auf eine rechtssichere Sterbehilfe zurückgreifen kann. Und bis dahin wünsche ich mir ein gutes Leben. Und auch Schokoladenriegel.

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