Spahn: „Wir müssen Geduld haben. Wenn wir zu früh öffnen, riskieren wir schnell steigende Infektionszahlen."

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn spricht mit der FAZ über die Wochen, die vor uns liegen und die Impfkampagne

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Herr Spahn, Gesundheit und Wirtschaft gehören zusammen – und stehen doch in einem Spannungsverhältnis. Wie bekommt man die optimale Balance hin?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Gesundheit und Wirtschaft ist häufig genug ein und dasselbe. Denn Gesundheitswirtschaft selbst ist schon ein großer Teil der Wirtschaft, mit rund zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts und mehr als fünf Millionen Beschäftigten. Die Gesundheitswirtschaft war der Jobmotor der letzten Jahre, relativ krisenfest. Und sie gibt Sicherheit für die Wirtschaft, das ist ein Standortfaktor. Manche Vorstandsmitglieder internationaler Konzerne sind sogar nach Berlin gezogen– weil sie sagen: In Deutschland, mit seiner Politik und seinem Gesundheitswesen, fühlt man sich sicher. Von der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens hängt auch ab, wann wir bestimmte Branchen wieder öffnen können. Deshalb werbe ich dafür, das Gesundheitssystem nicht nur unter als Kostenfaktor zu sehen. Es ist in erster Linie ein Dienst am und für den Menschen.

Die Unternehmensverbände drängen auf eine rasche Lockerung der Corona-Maßnahmen, die Ministerpräsidenten diskutieren eine Öffnungsstrategie. Können Sie Hoffnung machen?

Entscheidend ist, wie sich die Zahlen entwickeln. Natürlich belastet der Lockdown viele: Unternehmer, die vor Existenzfragen stehen, Beschäftigte in Kurzarbeit, Eltern mit Kindern, Angestellte im Home Office. Viele Bürger sorgen sich. Wir alle wollen die Beschränkungen möglichst schnell hinter uns lassen. Auch ich. Gleichzeitig ist es wichtig, die Infektionszahlen so stark zu senken, dass es auch nachhaltig ist. Es bringt wenig, jetzt zu lockern, und in ein paar Wochen stehen wir vor dem gleichen Schlamassel. Das haben andere Länder schon erlebt. Deswegen sollten wir lieber weiter konsequent die Kontakte reduzieren, bevor wir Hoffnung machen, wir könnten übermorgen schon Beschränkungen aufheben.

Die Infektionszahlen sinken. Kann man sich da nicht schon mal Gedanken machen, wie eine Öffnung zur richtigen Zeit laufen könnte?

Ich verstehe die Ungeduld, gerade in der aktuellen Lage: Die Zahlen gehen zurück, aber die Maßnahmen werden verschärft. Trotzdem müssen wir diese Geduld haben. Wenn wir zu früh öffnen, riskieren wir schnell steigende Infektionszahlen. Und den Virusmutationen machen wir es zu einfach.

In welcher Priorität wird geöffnet, sobald das geht?

Schulen und Kitas wurden im Dezember als letztes geschlossen. Sie müssen als erstes wieder geöffnet werden. Denn fehlende Betreuung ist für Eltern wie Kinder eine enorme Belastung. Wochenlang keine Schule wirft manchen jungen Mensch nicht nur für das laufende Schuljahr, sondern sogar fürs ganze Leben zurück.

Umgekehrt sagen die Wissenschaftler der „Zero Covid“-Initiative: Für die Wirtschaft ist es das Beste, wenn wir für einige Wochen in ganz Europa auch die Produktion schließen – und dadurch die Zahlen so weit senken, dass wir alles wieder öffnen können.

Aber das ist im Ansatz doch genau unsere Strategie - die Zahlen so weit zu senken, wie es geht. Um dann möglich zu machen, was geht. Dabei spielt Gesundheitsschutz die wichtigste Rolle, aber nicht die einzige. Und das ist der Unterschied zu der Zero Covid-Strategie. Verantwortungsvolle Politik muss die richtige Balance finden zwischen vielen Interessen. Eine radikale Strategie fordert dagegen in vielen Bereichen einen hohen Preis - nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und gesellschaftlich.

In Asien haben einige Länder die Zahlen sehr niedrig gehalten, auch demokratische.

Ja, Japan, Taiwan, auch Australien machen es besser. Das sind aber alles Inseln. Wir sind ein Land in der Mitte des Kontinents, neun Nachbarländer, freies Reisen. Bei mir zu Hause an der niederländischen Grenze fahren jeden Tag Hunderttausende von einem Land ins andere. Außerdem: wie soll man ganz Europa herunterfahren? Ich sehe noch nicht, wie man 27 Mitgliedstaaten auf diese eine Strategie verpflichten kann. Das wäre mit ganz anderen Kosten verbunden. Von daher ist das zwar ein legitimer Diskussionsbeitrag, aber in dieser absoluten Form nicht umsetzbar.

Könnte man den Lockdown zielgerichteter machen, wenn man mehr über die Ansteckungsorte wüsste?

Wenn wir später mit etwas Abstand auf diesen Winter schauen – dann werden wir feststellen, dass wir entgegen unserer eigenen Wahrnehmung wieder vergleichsweise gut durch diese Phase der  Pandemie gekommen sind. Wir haben im Dezember gesehen: In der zweiten Welle hat die dritte begonnen. Wir haben es geschafft, sie sehr früh zu brechen, wenn ich mir die Verläufe in anderen Ländern zum Vergleich anschaue. Irland oder Portugal zum Beispiel waren sehr hart getroffen.

Vielleicht wäre mit besseren Kenntnissen so ein breiter Lockdown gar nicht nötig gewesen?

Ein Friseur oder ein Gastronom wird mit dem besten Hygienekonzept zwar die Infektionsgefahr stark reduzieren, aber nie ausschließen können. Angesichts der ernsten Lage mussten wir deshalb auch diese Branchen einschränken – so bitter das im Einzelfall ist. Und beim Öffnen geht es um zwei Fragen: Wo sind die Infektionsherde, und wie bedeutend ist ein Bereich fürs öffentliche Leben? Da sind Kitas oder Schulen erst mal wichtiger als der Freizeitpark – auch wenn auch der natürlich seine Berechtigung hat. Danach wird man Zug um Zug alles andere mit Hygieneauflagen öffnen können.

Viele Eltern haben das Gefühl, Arbeit werde höher gewichtet als Schulen und Kindergärten: Während Leute noch ins Büro gehen oder in der Produktion eng beieinander stehen, müssen die Kinder schon daheim bleiben.

Erst kürzlich haben wir strengere Regeln für Arbeitgeber erlassen und ich rufe jedes Unternehmen dazu auf, da wo möglich, Arbeit zu Hause umzusetzen. Doch das Leben ist zu komplex, als dass man Entscheidungen nach reiner Lehre treffen könnte. Und es ist nun mal so: Die Schulen funktionieren auf Dauer nicht, wenn die wirtschaftliche Basis des Landes nicht stimmt – und umgekehrt. Ich finde es richtig, dass wir den Kern unserer wirtschaftlichen Grundlage nicht gefährden, sofern das unter vertretbarem Infektionsrisiko geht.

Die Wertschöpfung ist ein Argument?

Absolut!

Auch, dass sie bei einem VW-Arbeiter um ein Vielfaches höher ist als bei einem Kellner in der Gastronomie?

Das ist zumindest nicht der Hauptpunkt. In der Gastronomie ist das Infektionsrisiko einfach höher. In der Autofabrik sind die Produktionsabläufe penibel durchgetaktet, auch was den Infektionsschutz betrifft. Das Problem entsteht eher in der Pause oder beim Rauchen vor der Halle. Dass die Wertschöpfung so unterschiedlich ist, kommt hinzu. Im vorigen Frühjahr haben wir das erlebt: Als in China kein Auto zu verkaufen war, stand auch bei VW das Band still, und das nicht aufgrund politischer Entscheidungen in Deutschland. Ob wir uns in zehn Jahren noch Pflege und Gesundheit auf hohem Niveau leisten können – das entscheidet sich daran, ob unsere Industrie noch Wertschöpfung betreibt, wettbewerbeitsfähig ist und Innovation hervorbringt. Unser älter werdendes Land braucht über die nächsten Jahre eine signifikante Steigerung der Produktivität, um mit weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter mehr Wohlstand zu erarbeiten, für noch mehr Ältere. Das werden wir nicht allein mit Dienstleistungen finanzieren können.

Gehen Sie so weit wie Ihr Mentor Wolfgang Schäuble, der sagte: Leben und körperliche Unversehrtheit stehen nicht über allem, sondern die Menschenwürde – und alles andere muss abgewogen werden?

Das ist ja erst mal eine Beschreibung der Rechtslage. Gesundheitsschutz ist wichtig, wir gewichten ihn in dieser Pandemie bewusst höher als andere Bereiche. Diese Grundsatzentscheidung haben wir zu Beginn getroffen, in großer Mehrheit – in der Bundes- und Landespolitik, in den Parlamenten, in der Gesellschaft. Aber der Gesundheitsschutz steht nicht absolut. Wenn wir uns alle für vier Wochen zu Hause einschlössen, wäre die Pandemie wahrscheinlich eine Zeit lang vorbei. Aber das ist ja kein Leben. Es macht das Menschsein aus, mit anderen zu interagieren. Um diese Abwägung geht es. Wie man in dieser Pandemie Freiheit und Leben in Einklang bringt mit bestmöglichem Gesundheitsschutz. Darum ringen wir jeden Tag. Ob es uns jeden Tag gleich gut gelingt, darüber darf man streiten.

Eine Kritik an der Politik lautet: Sie agiere zu kurzatmig, die Menschen könnten sie nicht nachvollziehen. Braucht man langfristigere Strategien?

Wir haben eine Langfriststrategie: Wir wollen aus der Pandemie herauskommen, indem wir das Virus durch Impfen beherrschen. Bis dahin ist das Ziel, die Infektionszahlen so weit wie möglich zu senken und kontrollierbar zu halten. Alles andere ergibt sich aus der Dynamik des Geschehens bei einem Virus, das mutiert. Im Sommer entfielen zeitweise fast 50 Prozent der Infektionen auf Reiserückkehrer. Im Moment liegt dieser Anteil bei deutlich unter einem Prozent. Das heißt: Mit den Maßnahmen von damals können wir heute nicht viel ausrichten, mit mehr Tests am Flughafen lösen wir unser aktuelles Problem nicht. Konstante Anpassung ist also Teil der Strategie. Wir Deutschen haben in vielen relativ stabilen Jahrzehnten ein wenig verlernt, mit einer so dynamischen Lage umzugehen. Viele wünschen sich eine Strategie, bei der sechs Monate alles so bleibt, wie es am Anfang einmal erklärt und geplant wurde. Das funktioniert aber in einer solchen Lage nicht.

Unternehmen haben gerne Planungsicherheit. Das können Sie im Moment nicht bieten?

So sehr ich das Bedürfnis und auch die Notwendigkeit sehe, so wenig kann ich das versprechen.

War die Politik mit ihren Hilfen am Anfang zu großzügig, auch weil sie dachte, es geht schneller vorbei – zum Beispiel bei der Novemberhilfe?

Es macht etwas mit den Menschen, wenn sie nicht der Beschäftigung nachgehen können, die sie gelernt haben und für die sie Talent haben, ob es nun Kunst ist oder Unternehmertum. Das hat auch gesundheitliche Folgen – psychisch und körperlich. Deshalb ist und bleibt der Gedanke richtig, den Betroffenen – soweit es geht – zumindest die wirtschaftlichen Sorgen zu nehmen. Mit den 75 Prozent vom Umsatz, die ein Gastwirt daheim im Münsterland ersetzt bekommt und die ihm erst mal Sicherheit geben, stellen sich dann aber ganz andere Gerechtigkeitsfragen. Zum Beispiel, warum das dann auch eine Fastfoodkette bekommt. Absolute Gerechtigkeit gibt es ohnehin nie, in einer Pandemie leider auch nicht.

In Deutschland hieß es immer, eine Stärke der sozialen Marktwirtschaft ist unsere gute Verwaltung. Lernen wir in der Pandemie, dass wir doch nicht so gut sind, zum Beispiel bei der Umsetzung der Wirtschaftshilfen?

Dutzende Milliarden Euro so auszuzahlen, dass sie bei den Richtigen ankommen, und das noch einigermaßen schnell: Das ist nicht banal. Bei der Digitalisierung der Gesundheitsämter ist es genauso. Oder nehmen Sie das Verteilen der Masken: Wenn wir eine digitale Identität hätten, könnten wir jedem Berechtigten einen QR-Code schicken, mit dem man anschließend in der Apotheke Masken abholen kann. Das wäre optimal. Das haben wir aber nicht. Manche verstehen das nur als Bedrohung. Der Bürger Jens Spahn sieht das eher als Anspruch an den Staat: Ich will ein Recht auf eine digitale Identität! Trotzdem: Wenn die deutsche Verwaltung erst mal anfängt, macht sie’s gut und gründlich. Nehmen Sie die Impfzentren. Das ist alles generalstabsmäßig organisiert, da funktioniert die Verwaltung richtig gut.

Trotzdem hängen jetzt alle in der Warteschleife, um für ihre alten Eltern den Impftermin zu organisieren.

In Nordrhein-Westfalen haben vorigen Montag 1,2 Millionen Bürgerinnen und Bürger einen Brief bekommen, dass sie jetzt einen Impftermin vereinbaren können. Wenn so viele Menschen gleichzeitig bei einer Hotline anrufen, gibt es Wartezeiten. An diesem ersten Tag wurden übrigens 240.000 Termine vergeben.

Man muss ja nicht alle Briefe auf einmal verschicken.

Es beruhigt die Leute ungemein, wenn sie einen Termin fest vereinbart haben – selbst wenn er noch einige Wochen in der Zukunft liegt.

Und die höchste Risikogruppe?

Unser Ziel ist, dass jeder in dieser Gruppe bis Ende März ein Impfangebot bekommt.

Das heißt, dass er bis Ende März geimpft ist – oder bloß einen Termin bekommt, der irgendwann später stattfindet?

Idealerweise sollte bis dahin jede und jeder geimpft sein. Das ist das Ziel. Aber das hängt von den Lieferungen aus dem europäischen Bestellungskontingent ab. Impfstoff-Produktion ist das Komplexeste, was es gibt, das wird in der deutschen Debatte gelegentlich unterschätzt. Jede produzierte Charge wird mehrfach kontrolliert, vom Unternehmen und von den Behörden. Es ist etwas anderes, ob Sie ein Medikament für Kranke zulassen, oder ob Sie etwas millionenfach an Gesunde spritzen. Dieser komplexe Prozess kann immer wieder zu Problemen führen. Wenn wir das jeden Tag beklagen, geht es dadurch auch nicht schneller.

Beklagt wird das, weil es in anderen Ländern schneller geht.

Aber nicht in vielen. Auf der Welt gibt es 194 Staaten. Keine 50 davon impfen überhaupt schon. Vielleicht können wir‘s mal von dieser Seite sehen: dass wir eines der privilegierten Länder sind, die über eine Impfmöglichkeit verfügen. In den Vereinigten Staaten läuft die Debatte ähnlich wie bei uns, auch dort ringt die Verwaltung darum, das Impfen in den einzelnen Bundesstaaten zu organisieren. Ich weiß: Andere Staaten wie Großbritannien sind weiter. Aber dort gab es Notzulassungen, teilweise wird die zweite Impfung sehr weit nach hinten geschoben, beides halte ich nicht für einen guten Weg. Die ordentliche Zulassung wird auf Dauer helfen, weil sie Vertrauen schafft. Denn sobald genügend Impfstoff vorhanden ist, wird die Frage der Impfbereitschaft wieder ins Zentrum rücken.

Hätten die Europäer den Pharmafirmen mehr Geld geboten: Wären sie dann in der Lage gewesen, schneller zu produzieren? Nach dem Motto, whatever it takes – weil das immer noch billiger ist als die Kosten eines verlängerten Lockdowns?

Das alleine hätte nicht gereicht. Biontech-Pfizer zum Beispiel wollte bis Ende des vergangenen Jahres 100 Millionen Dosen vorproduzieren. Dann ist ein Produktionsteil ausgefallen, es wurden nur 50 Millionen. Wäre das unter anderen Bedingungen wirklich mehr geworden? Ich bezweifle das.

Mit mehr Werken? Kann schon sein, oder?

Bis November wussten wir nicht einmal, ob wir überhaupt einen wirksamen Impfstoff bekommen. Gegen viele Viren gibt es bis heute keinen Impfstoff, zum Beispiel gegen das HI-Virus. Gegen das Coronavirus können wir zum Glück impfen. Aber das wissen wir erst seit November. Als die EU bei Pfizer den Biontech-Impfstoff bestellt hat, war das die größte feste Bestellung, die der Konzern bis dahin bekommen hatte. Daran hat Deutschland einen großen Anteil, weil wir uns bereit erklärt haben, überschüssige Dosen notfalls zu übernehmen. Vielleicht hätte man mit dem Wissen von heute schon mal Produktionsstätten auf gut Glück aufgebaut. Aber stellen Sie sich vor, wir wären mit 30 Milliarden Euro eingestiegen, und es hätte am Ende nicht geklappt? Dann würden Sie mir jetzt ganz andere Fragen stellen.

Haben die Europäer zu wenig an den Impfstoff geglaubt?

Nein. Deutschland, Italien, Frankreich und die Niederlande sind zwar anfangs bei den Impfstoffverhandlungen vorangegangen – aber für alle 27 Mitgliedsstaaten. Und das aus Überzeugung. Wir haben doch in der Finanzkrise-Krise hautnah erlebt, wie sehr wir voneinander abhängen. Damals war es ein Fehler, den Hafen von Piräus an die Chinesen zu verkaufen. Jetzt dürfen wir nicht zulassen, dass zum Beispiel in den Westbalkan-Ländern nur Russland und China mit Impfstoffen helfen.

Astra-Zeneca hat von der EU sogar Geld bekommen, um eine Produktion aufzubauen. Jetzt liefert der Hersteller weniger als geplant. Fühlen Sie sich über den Tisch gezogen?

Ich erwarte Transparenz. Auch die Unternehmen stehen derzeit unter Stress. Für Biontech, Curevac und Moderna ist der Corona-Impfstoff jeweils das erste Produkt der Firmengeschichte. Astra-Zeneca hat ewig keine Impfstoffe mehr produziert. Deshalb muss ich akzeptieren, wenn es in der Produktion ein Problem gibt. Aber ich möchte dann nachvollziehen können, dass alle Abnehmer in gleicher Weise von dem Produktionsausfall betroffen sind. Es geht nicht um Europe First, sondern um Europas fairen Anteil. Dafür müssen wir wissen, was die EU an Impfstoffen verlässt und was hereinkommt.

Astra-Zeneca sagt: Die EU hat keine feste Mengenzusage für diesen Frühling bekommen, weil sie so spät bestellt hat. Stimmt das?

Schneller wäre besser gewesen, ja. Aber die Briten und Amerikaner haben bei Haftungsfragen nun mal einen anderen Ansatz. Und wenn Astra Zeneca im Februar mindestens 17 Millionen Dosen an die EU liefert und den Rest im März nachholt, hilft uns das weiter.

Dann schauen wir nach vorne: Was lässt sich tun, damit Deutschland schneller impfen kann?

Lassen Sie mich das einmal ins Verhältnis setzen: Die Entwicklung des Ebola-Impfstoffs hat noch mehrere Jahre gedauert. Bis ein neues Impfstoff-Werk auf der grünen Wiese steht, vergehen normalerweise fünf bis sieben Jahre. Wir schaffen das bei bestehenden Werken wie in Marburg in wenigen Monaten. Das ist enorm. Trotzdem müssen wir anerkennen, dass einige Länder beim Impfen schneller sind. Das prägt jetzt die Debatte.

Können Sie die Ungeduld nicht verstehen?

Natürlich. Wir sind mitten im Lockdown, wir alle sind ein Stück ermüdet. Der Impfstart, dann auch noch an Weihnachten, hat die Erwartungen in einer Art und Weise hochschnellen lassen, die ich ehrlichweise unterschätzt habe. Nachdem wir wochenlang über die Impf-Reihenfolge und Knappheit am Anfang diskutiert haben, hätte aus meiner Perspektive jedem klar sein müssen, dass das seine Zeit dauern wird. Ich verstehe die Enttäuschung. Und ich muss hinzufügen: es liegen noch einige harte Wochen vor uns, bevor es dauerhaft besser wird.

Was spricht dagegen, den russischen oder chinesischen Impfstoff in Europa einzusetzen?

Nichts. Entscheidend ist: Es braucht eine reguläre Zulassung nach europäischem Recht. Wenn ein Impfstoff sicher und wirksam ist, egal in welchem Land er hergestellt wurde, dann kann er bei der Bewältigung der Pandemie natürlich helfen.

Hat beim Impfstoff-Thema der Staat versagt oder der Markt?

Noch mal: Wenn wir zwölf Monate nach dem Auftreten eines neuen Virus wirksame Impfstoffe haben, die sogar schon millionenfach verfügbar sind, ist das sehr viel wert. Dafür bin ich dankbar. Ich weiß, dass die Dinge nicht optimal laufen und dass die Terminvergabe viele nervt. Viele sind frustriert, weil der Impfstoff knapp ist. Das verstehe ich. Ich rede nichts schön. Darüber müssen wir sprechen. Aber ich fände es kurzsichtig, wenn wir dabei den Blick dafür verlieren, wie wir gerade mit wissenschaftlicher Exzellenz eine Naturkatastrophe überwinden. Wir bekommen Corona wahrscheinlich so schnell unter Kontrolle wie nie zuvor eine Pandemie in der Menschheitsgeschichte.

Eines hat sich immerhin geändert: Von den Corona-Leugnern hört man nicht mehr viel.

Finden Sie? Ich nehme diese Leute immer noch sehr stark wahr. In manchen Regionen lagen auf einmal impfkritische Postwurfsendungen in allen Briefkästen. Da fragt man sich, wo das Geld dafür herkommt. Und es gibt Hacker-Angriffe. Manche Staaten haben offenbar ein Interesse daran, dass unsere Impfquote niedrig ist und die Pandemie verlängert wird. Das beschäftigt mich.

Wann ist die Pandemie vorbei?

Am Mittwoch war Jahrestag der Krise in Deutschland, vor einem Jahr ist der erste Fall in Bayern aufgetreten. Aber ich bin sehr sicher: Einen zweiten Jahrestag wird es in dieser Form nicht geben. Im Lauf des Jahres werden wir die Pandemie weitestgehend unter Kontrolle bekommen – durch die Impfungen und durch die Möglichkeit, das Vakzin an Mutationen anzupassen. Ich finde aber auch wichtig, dass wir jetzt schon darüber reden: Was folgt daraus?

Was also folgt für Sie aus der Pandemie?

Bei aller Kritik darf die patriotische Erzählung, wie wir durch diese Krise kamen, nicht verloren gehen. Wir haben sie bezwungen, weil wir zusammengehalten haben. Dieses Gemeinschaftsgefühl müssen wir mitnehmen in die 20er Jahre. Dieses Wissen, dass Innovation und Wissenschaft uns aus der Krise geführt haben und dass diese Innovation maßgeblich auch aus Deutschland gekommen ist. Dass wir mehr Biotech- und Innovationsstandort sind, als wir manchmal wahrnehmen.

So kommt es einem mit Blick auf die Digitalisierung nicht immer vor.

Das sehe ich anders. Wir haben gesehen, was möglich ist – von der Video-Sprechstunde bis zum digitalen Impfpass. Das wird auch weiterhin einen großen Unterschied machen. Ich möchte, dass wir den Schwung aus der Impfstoff-Entwicklung in die zwanziger Jahre mitnehmen, weil die neue mRNA-Technologie eine große Zukunft hat, etwa in der Krebstherapie. Ich möchte, dass Deutschland wieder die Apotheke der Welt wird und Leben rettet. Wir haben die Voraussetzungen dafür. Deshalb werden wir diesen Bereich stark fördern, auch über die Pandemie hinaus. Und für die Mutationen brauchen wir unter Umständen neue Impfstoffe, die sich auf diese Weise leichter entwickeln lassen. Wir wollen mRNA zu einer Technologie machen, die in Deutschland ihre Heimat hat – nicht nur für diese Pandemie.

Und was muss sich ändern?

Wir sind viel zu abhängig von China. Europa muss eine diversifiziertere Handelspolitik als Lektion aus dieser Krise mitnehmen. Wir brauchen eine positivere Einstellung zum Freihandel auf der ganzen Welt, um die einseitige Abhängigkeit zu reduzieren. Deshalb ist es bedauerlich, dass das Ceta-Abkommen mit Kanada bis heute nicht im Bundestag ratifiziert wurde. Außerdem brauchen wir Fachkräfte, auch im Gesundheitswesen. Da müssen wir in den zwanziger Jahren dranbleiben. Wenn man in dieser Pandemie überhaupt eine Chance sehen will, dann doch die, dass sie das Jahrzehnt positiv prägen kann. Wir wissen, was wir zusammen schaffen können. Und wir haben gelernt, wo wir noch viel, viel besser werden müssen.

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