Spahn: Es gibt gute Gründe für mehr Zuversicht

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn spricht mit der Rheinischen Post über Grundrechte, Öffnungsschritte und eine besser Bezahlung für Pflegekräfte.

Rheinische Post: Morgen treten Lockerungen für Geimpfte und vollständig Genesene in Kraft. Richtig so?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Ja, aber das sind keine Lockerungen, es geht um Grundrechte. Die haben wir in den letzten 14 Monaten so eingeschränkt wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Schritt morgen ist nur folgerichtig. Gerade auch, weil die Impfung nicht nur vor einer Covid-19-Erkrankung schützt, sondern zu einem sehr hohen Grad auch weitere Infektionen vermeidet.

Derzeit sind erst rund acht Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.

Die Zahl der Zweitimpfungen wird noch im Mai deutlich zunehmen. Aber natürlich sind viele Menschen nach wie vor von Einschränkungen betroffen. Übrigens auch Geimpfte, Genesene und Getestete: Wir alle werden uns noch einige Zeit an Abstands- und Maskenregeln halten müssen.

Befürchten Sie eine zunehmende Neid-Debatte, solange es eine Ungleichbehandlung von Geimpften und Nicht-Geimpften gibt?

Dabei hilft uns die Impfpriorisierung. Wir haben bewusst jene Menschen zuerst geimpft, die am stärksten betroffen waren. Wenn nun Pflegeheimbewohner, die eine wirklich harte Zeit der Isolation hinter sich haben, als Erste wieder mehr Kontakte haben können, ist das ein Grund zur Freude. Das können und sollten wir alle mittragen. Aber ja, wir werden nun für einige Wochen eine Spannung in der Gesellschaft erleben, die auch quer durch Familien und Betriebe verläuft, wenn manche geimpft sind, andere noch nicht. Aber das werden wir gemeinsam aushalten.

Solange kein Impfstoff für Kinder zugelassen ist, ist für Familien kein Ende der Einschränkungen in Sicht. Viele junge Familien fühlen sich politisch zu wenig berücksichtigt. Welche Perspektive können sie geben?

Mir ist sehr wohl bewusst, was die Pandemie Kindern und Jugendlichen abverlangt. Diese Zeit prägt gerade junge Menschen stark. Ihnen fehlt Bewegung, die Zeit mit ihren Freunden in Kita und Schule. Wir werden die dritte Welle aber nicht alleine durch das Impfen brechen. Wir müssen die Inzidenzen senken. Die aktuelle Entwicklung ist ermutigend. Das Ziel muss ja sein, dass Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen für alle aufgehoben werden können.

Mit der Bundes-Notbremse gibt es eine flächendeckende Lösung, doch beim Öffnen ist kein einheitlicher Plan in Sicht. Droht ein neuer Flickenteppich?

Der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz von Anfang März gilt weiterhin. Darin sind auch Öffnungsschritte für Inzidenzen unter 100 festgelegt. Doch es bleibt wichtig, dass wir Zuversicht und die Aussicht auf einen guten Sommer mit Vorsicht und Umsicht verknüpfen. Wer zu schnell öffnet, verstolpert den bisherigen Erfolg. Deswegen sollten wir - wenn es die Lage vor Ort zulässt -beim Öffnen zunächst draußen anfangen: Außengastronomie, Veranstaltungen unter freiem Himmel, Zoos oder auch Sportveranstaltungen mit reduzierter Besucherzahl – und natürlich immer mit Abstand und Hygiene. Der Negativ-Test oder Impfnachweis muss die Voraussetzung bleiben. Ganz wichtig: Getestete, Genesene und Geimpfte sind hier gleichgestellt und haben die gleichen Zugänge.

Können Sie schon eine klare Perspektive für den Sommerurlaub geben?

Ich selbst plane meinen Urlaub in Deutschland. In dieser hoffentlich letzten Phase der Pandemie würde ich keine großen Fernreisen planen, Nordsee statt Südsee quasi. Innerhalb der EU wird das Reisen voraussichtlich nicht von der Impfung abhängig sein. Auch mit den Testungen wird man sich europaweit gut bewegen können.

Welche Rolle spielt dann der geplante digitale Impfnachweis?

Papiernachweise müssen weiterhin gelten. Wenn wir nur auf die digitale Variante setzen, werden sowohl Länder ohne diese Lösung benachteiligt, als auch Bürger, die diese nicht haben wollen oder können. Denken sie nur an ältere Mitbürger ohne Smartphone. Unser Ziel ist, dass ergänzend der digitale Nachweis in der zweiten Hälfte des zweiten Quartals kommt.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass sich Varianten ausbreiten, gegen die kein bisher zugelassener Impfstoff wirkt?

Noch nie in der Geschichte der Menschheit gab es Impfungen schon während einer Pandemie. Deshalb gibt es auch die Sorge vor sogenannten Escape-Varianten, also Virusmutationen, gegen die keine der aktuell zugelassenen Impfungen hilft. Genau aus diesem Grund sequenzieren wir mutierte Viren in hoher Taktung. Deutschland liegt bei der Sequenzierung inzwischen weltweit unter den Top 5, wir haben da deutlich aufgeholt. Und wir sichern uns in den EU-Rahmenverträgen auch Impfstoffe, die auf Mutationen angepasst werden können. Nach Aussage der mRNA-Forscher wären diese Entwicklungen innerhalb von sechs bis acht Wochen möglich, die anschließende Zulassung ist in ein bis zwei Monaten machbar. Wir sind für diese Szenarien gerüstet.

Es gibt viel Kritik und Frust über das Krisenmanagement. Was macht das mit dem Vertrauen in die staatliche Handlungsfähigkeit?

Das Vertrauen ist derzeit geschwächt, daran gibt es nichts schönzureden. So wie es zu Beginn einen Krisenbonus für die Regierungsparteien gab, gibt es jetzt einen Krisenmalus. Dabei gibt es gute Gründe für mehr Zuversicht: Wir kommen deutlich voran bei der Genomsequenzierung, beim Impfen, bei der Digitalisierung und Vernetzung der Gesundheitsämter, bei den Updates der Corona-Warn-App, beim Testen. Ja, es gab Versäumnisse. Aber wir haben in den letzten 14 Monaten gemeinsam viel erreicht. Das sollten wir uns als Gesellschaft häufiger vor Augen führen.

Ihre Prognose: Gehen wir als krisenfestere oder als gespaltene Gesellschaft aus dieser Krise hervor?

Das haben wir selbst in der Hand. Dass es Konflikte gibt in dieser Pandemie, ist unausweichlich – das ist in einer Familienkrise nicht anders als in einer gesellschaftlichen. Aber das muss nicht so bleiben. Denn das Ende der Krise ist Anlass für Zuversicht, nicht für Verbitterung. Ich bin mir sicher: Am Ende können wir stolz darauf sein, dass wir das Virus gemeinsam besiegt haben.

Wo sehen Sie dabei Ihre politische Verantwortung

Wir waren in dieser Pandemie dazu gezwungen, manche Interessen höher zu gewichten als andere - die Gesundheit aller etwa höher als manche individuelle Freiheit. Das bedeutet aber nicht, blind zu sein für die Härten und für das Leiden, das dadurch entsteht. Etwa bei Gastronomen, die um ihre Existenz bangen, bei Künstlern, die nicht auftreten können oder bei all den Familien zu Hause. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass wirtschaftlicher Schaden durch entsprechende Hilfen leichter erträglich zu machen ist als gesundheitlicher Schaden. Das immer wieder zu erklären, ist mir wichtig. Wir kommen nur gut gemeinsam aus dieser Krise, wenn wir als Gesellschaft miteinander im Gespräch bleiben.

Wie gut sind Sie derzeit auf Bundesarbeitsminister Heil zu sprechen und wie beurteilen Sie das unabgestimmte Vorgehen bei den Tariflöhnen für die Pflege?

Ich finde es schade, dass vier Monate vor der Wahl die gute Zusammenarbeit bei der Konzertierten Aktion Pflege von Arbeits-, Familien- und Gesundheitsministerium durch ein parteipolitisches Manöver in Frage gestellt wird. Ein gemeinsames Vorgehen wäre besser gewesen. Immerhin, das Thema Pflege steht nun wieder oben auf der Agenda. Wenn wir das Klimagesetz in nur zwei Wochen verabschieden, können wir auch die Verbesserungen für die Pflege noch in dieser Legislatur auf den Weg bringen.

Ihre Pflegereform umfasst mehrere Milliarden Euro jährlich, dafür brauchen Sie auch Finanzminister Scholz.

Wir wollen Pflegekräfte besser bezahlen, Pflegebedürftige dabei aber nicht überlasten. Ja, dafür braucht es einen Bundeszuschuss. Derzeit befinden wir uns in der Ressortabstimmung. Der Finanzminister muss sich nun dazu verhalten. Ist er ein Vizekanzler, der noch regiert, oder Kanzlerkandidat im reinen Wahlkampfmodus? Mir wäre es lieber, das Problem mit ihm zu lösen und Pflegekräften wie Angehörigen konkrete Perspektiven aufzuzeigen.

Die Zeit, die in dieser Legislaturperiode noch bleibt, wird langsam knapp.

Es gibt zwei Komponenten: die fachliche und die politische. Fachlich halte ich diese Reform für unbedingt notwendig. Sowohl für die Pflegekräfte, die eine bessere Bezahlung verdient haben. Aber auch für alle Familien, die die Pflege ihrer Angehörigen finanziell stemmen müssen. Und politisch betrachtet, wird die Reform früher oder später ohnehin kommen, egal, wie die Bundestagswahl ausgeht. Wenn die Kosten also so oder so entstehen, warum sollte es nach der Wahl leichter zu finanzieren sein? Das Problem muss gelöst werden, daran führt kein Weg vorbei. 

Apropos Geld, Sie wollen die Krankenkassen mit einem Rekordsteuerzuschuss von 12,5 Milliarden Euro stützen. Wie optimistisch sind Sie, dass dieses Vorhaben mit Olaf Scholz machbar ist?

Um gut aus der Krise zu kommen, haben wir in dieser Koalition die Garantie gegeben, dass die Sozialversicherungsbeiträge nicht über 40 Prozent steigen. Das gelingt für 2022 nur dann, wenn es einen milliardenschweren Bundeszuschuss für die Krankenkassen gibt. Der Finanzminister hat die Sozialgarantie mit mir gemeinsam im Kabinett beschlossen. Ankündigungen zu machen, ohne sie einzuhalten zu müssen, kann man machen, wenn man Baerbock oder Habeck heißt und in der Opposition ist. Wer Scholz heißt und Finanzminister ist, muss seine Beschlüsse auch umsetzen.

Die Sozialgarantie gilt bis 2022. Wie sieht es langfristig aus?

Das ist eines der drei großen Themen für die 2020er Jahre, die wir auch aus dieser Pandemie mitnehmen. Eine grundlegende Lehre aus der Pandemie ist doch, dass wir einen Staat brauchen, der seine Bürger schützt und ihnen zugleich die bestmögliche Entfaltung ihrer Talente erlaubt. Bei den Sozialabgaben plädiere ich daher für eine stärkere Finanzierung über Steuern als über Beiträge - das entlastet Geringverdiener und ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Staatlich geförderte Innovation ist das zweite große Zukunftsthema, wir sollten eine starke, in die Welt strahlende Bundesuniversität aufbauen, sie etwa aus der Berliner Charité heraus entwickeln. Notfalls über eine Verfassungsänderung. Und zum dritten müssen wir die großen Handelsfragen und die viel zu starke Abhängigkeit von China anpacken. Wir brauchen eine stärkere Diversifikation unserer Handelsbeziehungen als EU.

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