Pflegestellen - Kassen müssen Anträge schneller bewilligen

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Bundesfamilienministern Franziska Giffey sprachen in der Rheinischen Post vom 24. August 2019 über die Zukunft der Pflege. Das Doppelinterview führten Kristina Dunz und Eva Quadbeck.

Rheinische Post: Sie haben sich als Minister im Kabinett kennengelernt. Was schätzen Sie am jeweils anderen?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Franziska hat immer gute Laune und zeigt das auch. Ein Westfale wie ich ist da eher… sagen wir: …zurückhaltender (lacht). Sie packt gerne an, das mache ich auch. Das Schönste ist, wenn sie vor Kindern steht und sagt . . .:  Wie ging der Spruch noch?

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey: Machen ist wie wollen - nur krasser.

Spahn: Genau.

Giffey: Es gibt Menschen, die erklären, was nicht geht und es gibt die anderen, die sagen: Wir gucken mal, ob es nicht doch geht. Zu denen gehört Jens und ich würde mich auch dazu zählen. Für uns ist klar: Wir arbeiten an der Sache, wir versuchen etwas hinzukriegen und wir treten uns nicht gegens Schienbein. So ist auch die Konzertierte Aktion Pflege angelaufen – gemeinsam mit Hubertus Heil.

Sie haben gemeinsam eine Menge Gesetze zur Pflege auf den Weg gebracht. Sind Ihre Maßnahmen denn schon für die Pflegebedürftigen spürbar?

Spahn: Es ist zumindest spürbar, dass sich etwas verändert. Wir kümmern uns mit drei Ministern um die Pflege: der Arbeitsminister um gerechtere Bezahlung, die Familienministerin um bessere Ausbildung. Und der Gesundheitsminister um mehr Pflegekräfte und attraktivere Arbeitsbedingungen. Zugegeben: Es sind noch nicht alle neu geschaffenen Stellen besetzt. Aber sie sind finanziert, das ist wichtig. Im Sommer haben wir einen Plan vorgelegt, wie wir zusammen mit allen drei Ministerien und allen Beteiligten der Branche die Pflege besser machen wollen. Jetzt sind wir in der Umsetzung.

Wenn Sie sagen die Stellen sind finanziert. Werden Sie von den Trägern denn auch schnell genug bewilligt, dass Leute eingestellt werden können?

Spahn: Wir kämpfen dafür, dass möglichst schnell möglichst viele neue Pflegekräfte eingestellt werden. Inzwischen sind fast 3000 Stellen beantragt. Das ist auf einem angespannten Arbeitsmarkt wie der Pflege schon ein kleiner Erfolg. Doch Anträge alleine reichen nicht. Sie müssen auch bewilligt werden - unbürokratisch und schnell. Um das zu gewährleisten, sprechen wir mit Kassen und Arbeitgebern.

Giffey: Wir haben in allen Bereichen der Pflege nicht genug Leute. Beispielsweise gibt es für 100 offene Stellen in der Altenpflege nur 27 Bewerber. Wir müssen also mehr Menschen gewinnen, die diesen Beruf machen. Deshalb haben wir im Januar die Ausbildungsoffensive Pflege gestartet. Bis 2023 wollen wir zehn Prozent mehr Ausbildungsplätze und zehn Prozent mehr Auszubildende. Das ist ein großer Sprung, bei dem viele Partner mithelfen. Es wird zum 1. Januar 2020 auch endlich das Schulgeld in der Pflege abgeschafft. Wir brauchen eine attraktive Ausbildungsvergütung mit Tarifbindung für alle, bei der dann schon im ersten Ausbildungsjahr 1100 Euro im Monat drin sind. Mit der neuen generalistischen Pflegeausbildung kann man künftig in die Kranken-, in die Alten- oder in die Kinderkrankenpflege gehen. Das werden wir auch mit einer großen Kampagne bewerben. Wir bauen dafür ein 40-köpfiges Beratungsteam auf, das bundesweit gezielt in Pflegeschulen und Pflegeeinrichtungen berät und informiert. Und wir werden auch auf Berufsmessen präsent sein.

Wie viele Pflegekräfte fehlen aktuell in Deutschland?

Spahn: Das ist schwer zu schätzen. Aber wenn alle Stellen besetzt würden, die finanziert werden könnten, sind es wahrscheinlich deutlich mehr als 50000. Klar ist: Der Bedarf an Pflegekräften ist riesig. Bei den Pflegeheimen und Pflegediensten deutlich mehr als bei Krankenhäusern. Und klar ist auch, dass wir das nur schaffen, wenn wir alle Register ziehen: Ausbilden, umschulen, besser bezahlen – und Pflegekräfte aus dem Ausland anwerben.

Giffey: Wir beiden ziehen da mit Arbeitsminister Hubertus Heil an einem Strang. Die Aufgabe ist so groß, dass die drei zuständigen Minister eng zusammenarbeiten müssen. Und der Fachkräftemangel in den sozialen Berufen ist vor allem auch ein frauenpolitisches Thema. In diesem Bereich arbeiten 80 Prozent Frauen.

In der Regel sind es Frauen, die private häusliche Pflege leisten. Die stehen aber immer weniger zur Verfügung. Wie wollen Sie dieses Standbein der Pflege angesichts der stark gestiegenen Erwerbsarbeit von Frauen sichern?

Giffey: Die pflegenden Angehörigen sind zu rund 70 Prozent Frauen. Es geht deshalb nicht allein um die  Vereinbarkeit von Familie und Beruf sondern auch von Pflege und Beruf. Pflegende Angehörige müssen oft finanzielle Einbußen hinnehmen. Das zinslose Darlehen, das man heute schon für die Pflege von Angehörigen aufnehmen kann, wird aber nicht so gut angenommen. In einer so schwierigen Situation scheuen vermutlich viele davor zurück, auch noch ein finanzielles Risiko einzugehen.

Was ist die Alternative für pflegende Angehörige?

Giffey: Bei uns im Bundesseniorenministerium denken wir über eine Art Lohnersatzleistung nach: ein Familienpflegegeld analog zum Elterngeld, das über einen gewissen Zeitraum gezahlt wird.  Das ist zunächst mal eine Idee. Wir haben dafür noch keine Finanzierung und das ist sicherlich auch nichts für diese Legislatur, aber wir müssen uns mit dieser gesellschaftlichen Zukunftsaufgabe auseinandersetzen und darüber diskutieren, wie wir pflegende Angehörige besser und spürbar unterstützen. Bis 2050 wird es Prognosen zufolge 4,5 Millionen Pflegebedürftige geben. Ein Familienpflegegeld würde das Pflegesystem auch insgesamt entlasten. Diejenigen, die zu Hause von Angehörigen betreut werden, müssen nicht in Heimen und nur zum Teil  von ambulanten Diensten versorgt werden.

Herr Spahn, brauchen wir ein Pflegegeld?

Spahn: Wir haben in den vergangenen Jahren sehr viel für pflegende Angehörige getan: Tagespflege, Entlastungsleistungen, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, Pflegedarlehen und Pflegeunterstützungsgeld eingeführt. Die Ausgaben der Pflegeversicherung haben sich in den letzten zehn Jahren auch deswegen fast verdoppelt. Die Pflege bleibt aber eine familiäre Aufgabe, bei der die Gesellschaft unterstützt. Pflegegeld wäre eine zusätzliche milliardenschwere Leistung. Das ist das Problem der Sozialdemokratie: Die Grundrente ist noch nicht finanziert, keiner weiß, wo die nötigen Milliarden herkommen sollen - und doch werden schon immer weitere Versprechungen ins Schaufenster gelegt, die keiner erfüllen kann. Die Enttäuschung ist also programmiert. Wir werden uns unseren Sozialstaat in fünf bis zehn Jahren nur dann leisten können, wenn wir noch Exportweltmeister sind und die Automobilindustrie gut läuft. Deshalb halte ich wenig davon, Vorschläge zu machen, die aktuell kaum finanzierbar sind. Ich habe allergrößten Respekt vor pflegenden  Angehörigen und ihrer Leistung. Sie verdienen all unsere Anerkennung und Unterstützung. Gerade deshalb sollten wir keine Hoffnungen wecken, die wir nicht erfüllen können.

Vielleicht muss die Regierung der Automobilindustrie einfach mehr Druck machen, dass sie weniger betrügt und dafür innovativer ist.

Giffey: Es geht jetzt gar nicht um die Automobilindustrie, sondern darum, was einen modernen begleitenden und aktivierenden Sozialstaat ausmacht.

Spahn: Natürlich geht es um die Zukunft des Sozialstaates. Aber die hängt doch unmittelbar mit der Wirtschaft zusammen - und damit wesentlich mit der Automobilindustrie. Zu unserer niedrigen Arbeitslosenquote tragen stark Maschinenbauer, Automobilzuliefer-Betriebe und die Autokonzerne selbst bei. Wenn wir nicht dafür sorgen, dass diese die Mobilität der Zukunft gestalten, wenn wir stattdessen sogar ein Ende des Individualverkehrs ausrufen, dann können wir nicht gleichzeitig unsere wirtschaftliche Stärke behalten. Die Zukunft des Sozialstaates können wir nur gestalten, wenn unsere Wirtschaft zukunftsfähig ist.

Giffey: Wir brauchen eine hohe Erwerbsquote und wirtschaftliche Stärke. Das sehe ich auch so. Ein starker Sozialstaat bedeutet nicht, dass wir alles in Hülle und Fülle fließen lassen wollen, ohne uns über die Finanzierung Gedanken zu machen. Mit dem Familienpflegegeld würden nicht alle zu Hause bleiben. Es geht vielmehr darum, für Menschen die Erwerbstätigkeit zu erhalten, auch wenn sie vorübergehend teilweise oder ganz aus dem Job aussteigen müssen, um zu pflegen. Und dass die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf auch im Interesse der Wirtschaft ist, liegt doch auf der Hand, wenn ich höre, wie alle über den Fachkräftemangel klagen. 

Spahn: Lass uns doch erst einmal das umsetzen, was wir angestoßen haben: Ganztagsbetreuung für Grundschüler oder die Grundrente und nicht ständig neue Sozialleistungen erfinden.

Giffey: Wir wollen und können ein Familienpflegegeld nicht sofort einführen. Es geht um Zukunftsperspektiven für die nächste Dekade.

SPD und CDU haben zu kämpfen. Sind die Volksparteien aus der Mode gekommen? Wollen die Menschen kein Warenhaus mehr, in dem man von Herrensocken bis zum Tortenheber alles findet?

Spahn: Wir erleben eine zunehmende Unerbittlichkeit in Politik und Gesellschaft. Sei es in der Debatte um die Klimapolitik, in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rändern, im Ringen innerhalb der CDU zwischen der Werte-Union und der Union der Mitte– das alles verläuft nach dem gleichen Motto: Wer meine Meinung nicht teilt, muss bekämpft werden. Andere Meinungen werden nicht geduldet. Das Bedürfnis nach Zusammenhalt und gemeinsamen Werten vieler Menschen ist aber riesengroß. Der politische Diskurs widerspricht zunehmend den Erwartungen der Gesellschaft. Ich bin davon überzeugt: Die Bürger suchen Parteien und Politiker, die das Land zusammen halten, nicht welche, die das Land spalten.

Giffey: Aus der Mode gekommen ist der Kompromiss. Die politische Einigung zwischen zwei völlig verschiedenen Positionen wird wenig geschätzt. Aber Politik ist doch immer die Kunst des Möglichmachens. Wenn man zusammenarbeitet, werden einem die eigenen Wünsche nicht zu 100 Prozent erfüllt...

Spahn: Das ist in der Familie ja schon nicht so.

Giffey: Immer da, wo Menschen zusammenkommen, muss man Kompromisse machen, und sei es beim gemeinsamen Urlaubsziel. Der Kompromiss wird häufig als Niederlage ausgelegt statt anzuerkennen, dass ein Weg gefunden wurde, mit dem verschiedene Seiten leben können. Für mich ist eine moderne Volkspartei die, die unterschiedliche Interessen zusammenbringt. Es ist ja nicht so, wie Du sagst, dass die SPD immer nur über das Soziale redet.

Spahn: Macht sie aber leider.

Giffey: Das stimmt nicht, mein Lieber. Es ist sehr wichtig, dass wir eine Balance finden.

Spahn: Vielleicht musst Du doch noch für den Parteivorsitz kandidieren.

Giffey: Nun hör' doch mal auf. (lacht) Es muss einen Ausgleich der Interessen geben zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Fragen. Das macht eine Volkspartei aus. Wenn man sich nur um ein Thema kümmert, kommt man aus dem Gleichgewicht. Deshalb braucht es die Volksparteien, die ausgleichen können – für eine gute gesamtdeutsche Entwicklung. Deswegen braucht es eine starke Sozialdemokratie.

Spahn: Ja, und es braucht zwei große Volksparteien, die sich unterscheiden und im Wettbewerb zueinander stehen. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass es zwischen SPD und Union keinen Unterschied mehr gibt, suchen sie im Zweifel das Extreme. Das ist auch das Schwierige für eine Koalition wie unsere: gut gemeinsam zu regieren und gleichzeitig den Unterschied herauszuarbeiten ...

Giffey: Ich denke, das haben wir beide heute ganz gut hinbekommen.

Der rechtsaußen angesiedelte Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen hat Ihrer Ansicht nach also auch selbstverständlich einen Platz in der CDU?

Spahn: Egal, ob jemand unter den Vorsitzenden Konrad Adenauer, Helmut Kohl oder Angela Merkel in die CDU eingetreten ist, alle haben auch heute und morgen einen Platz in der CDU. Das ist für mich Volkspartei.

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