Für eine neue Generationengerechtigkeit

Gastbeitrag von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn für die Südwest Presse

„Ich möchte lieber nicht“ – der berühmte Dauer-Satz des Schreibers Bartleby in Herman Melvilles gleichnamiger Erzählung trifft auch unser Verhältnis zur Frage von Alter, Kranksein, Hilfloswerden. Wir wollen lieber nicht darüber nachdenken und nicht darüber reden, im Privaten ebensowenig wie als Gesellschaft. Wir verdrängen gern die Diskussion mit unseren eigenen Eltern, wie die Familie im Fall des Falles die Hilfe organisieren wird. Und wir verdrängen auch die Frage, wer eigentlich für uns selbst da sein wird. Gerade aus Sicht der Generation der Babyboomer, der geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre, die so zahlreich sind und zugleich für ziemlich wenig Nachwuchs gesorgt haben, ist das eine fahrlässige Verdrängung. Denn auch bei allem großartigen medizinischen Fortschritt ist klar: Den Schicksalsschlag, der Pflegebedürftigkeit für einen Menschen und seine Angehörigen bedeutet, den können wir nicht wegreformieren. Was wir können und wollen, ist, möglichst umfassend zu helfen. Dafür ist die Pflegeversicherung da. Aber die Aufgabe wächst. Nur drei Zahlen: 3,3 Millionen Pflegebedürftige bekommen heute Leistungen der Pflegeversicherung; 1,7 Millionen Menschen in unserem Land leben schon heute mit Demenz, und jedes Jahr kommen 300.000 dazu.

Die Notwendigkeit zu handeln ist also unabweisbar. Und zugleich ist in beunruhigender Weise die „demografische Entwicklung“ auf dem Weg, ein Begriff zu werden wie „Globalisierung“ und „Digitalisierung“, ein Plastikbegriff, gefährlich nah an der Phrase. Das ist deshalb gefährlich, weil es möglich ist, dass wir den Begriff schon nicht mehr hören können, bevor die nötigen gesellschaftlichen Weichenstellungen vollzogen und die nötigen politischen Entscheidungen getroffen sind. Dass wir uns abwenden, bevor wir richtig im Modus des Wandels angekommen sind. Denn Wandel wird in allen Lebensbereichen nötig sein, um die Entwicklung nicht passiv zu erleiden, sondern sie aktiv gut zu gestalten.

Es ist oft genug aufgezählt worden, wie umfassend die Folgen und Veränderungen sein werden – auch abseits von Politik und Sozialsystemen: von der altengerechten Gestalt alltäglicher Konsumartikel über die Fachkräfte-Gewinnung bis zur Länge der Grünphase von Fußgängerampeln. Jeder kann sich im Einzelnen ausmalen, was es für unsere Institutionen und Infrastrukturen heißt, wenn sie sich vor allem auf ältere Menschen ein- und auszurichten haben. Dabei wäre der Zungenschlag ganz falsch, es handle sich hier insgesamt um ein Verhängnis. Wenn wir den Impuls für gute Veränderungen nutzen, kann er auch Verheißung sein: Immer länger gut leben!

Folgenlose Sonntagsreden sind die eine Gefahr. Die andere Gefahr ist ein Sozialpopulismus, der glaubt, die Gesellschaft durch unhaltbare Sozialleistungs- und Rentenversprechen zusammenhalten und die politischen Ränder klein halten zu können – durch Milliardenversprechungen, die die Jungen zahlen müssten, aber nicht werden zahlen können. Vor allem dürfen wir das mühsam genug erreichte Reflexionsniveau nicht wieder senken und politisch bereits gezogene Konsequenzen nicht wieder rückgängig machen. Die „Rente mit 63“ steht für eine solche zukunftsvergessene Geisterfahrt – zumal im Angesicht einer Entwicklung, in der uns schon bald das heutige Verhältnis von zwei Beitragszahlern zu einem Rentner wie eine goldene Zeit vorkommen wird. Eigentlich müssten wir das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung koppeln. Denn wenn wir immer länger leben, werden wir auch ein Stück länger arbeiten müssen, um das zu finanzieren.

Konrad Adenauer, der große Kanzler des Neuanfangs nach 1945, steht heute auch für eine jener fundamentalen Fehleinschätzungen, die uns Menschen aus den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten unserer jeweiligen Gegenwart heraus immer neu unterlaufen. „Kinder kriegen die Leute immer“ – stand für ihn mit Blick auf die Nachhaltigkeit einer umlagefinanzierten Rentenversicherung fest. Weil sich das leider nicht ausreichend bewahrheitet hat, müsste man Vorsorge treffen, um die Rente wirklich Richtung 2050 bezahlbar zu halten. Man müsste buchstäblich mehr ansparen – bei der privaten Vorsorge ebenso wie beim Aufbau einer Demografie-Reserve – und dabei Eltern abhängig von der Zahl ihrer Kinder von der Einzahlung befreien.

Denn es ist ja bis heute die Wahrheit, was Oswald von Nell-Breuning, einer der Begründer der Katholischen Soziallehre und ihres Nachdenkens über Solidarität und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, 1980, 90jährig, auf einem Seniorenkongress der CDU gesagt hat: „Diejenigen, die Beiträge zahlen, empfangen ja nicht ihre Beiträge zurück, wenn sie alt geworden sind. Durch die Beiträge haben sie nicht die Rente erdient, sondern durch sie haben sie erstattet, was die Generation zuvor Ihnen gegeben hat. Damit sind sie quitt. Die Rente, die sie selbst beziehen wollen, die verdienen sie sich durch die Aufzucht des Nachwuchses. Wer dazu nichts beiträgt, ist in einem ungeheuren Manko.“ Im Umlagesystem bekommen die Alten das Geld von den Jungen – auch wenn es die Kinder nur der Anderen sind! Und das sage ich sehr bewusst als selbst Kinderloser, der bereit ist, finanziell mehr zur Zukunftsfähigkeit des Systems beizutragen.

Die gleiche Gerechtigkeitsfrage stellt sich in der Pflegeversicherung. Auch hier ziehen Eltern eben auch künftige Beitragszahler groß und sichern das System so für die Zukunft. Deswegen liegt derzeit der Beitragssatz zur Pflegeversicherung für Kinderlose bereits um 0,25 Prozentpunkte höher als für Versicherte mit Kindern. Dieses Grundprinzip ist richtig und vorbildlich. Pro Jahr werden 1,4 Milliarden im Pflegevorsorgefonds zur Seite gelegt. Die Pflege ist damit der einzige Zweig der Sozialversicherung mit eingebauter Vorsorge für die Zukunft. Aber auch da ginge mehr, damit auch nach 2030 noch genug Geld da ist, wenn die Babyboomer in Rente gehen – und nicht wenige in der Mitte des 21. Jahrhunderts auch pflegebedürftig sein werden.

Wir müssen die Dinge jetzt generationengerecht gestalten, sonst werden die immer wenigeren Jungen des übernächsten Jahrzehnts Wege finden, ihre finanzielle Überlastung abzuschütteln oder zu umgehen. Wir werden den Beitrag zur Pflegeversicherung zum 1. Januar 2019 erneut deutlich um 0,5 Beitragspunkte anheben müssen. Zugleich spüren alle, dass wir für mehr Pflegekräfte, für deren bessere Bezahlung und für die Unterstützung zu Hause noch mehr Geld brauchen werden. Ich möchte den Umstand, dass damit die Pflege-Debatte endlich richtig Fahrt aufgenommen hat, als Chance nutzen, in den nächsten Monaten offen und ehrlich zu diskutieren: Wie bleiben wir eine menschliche Gesellschaft, wie erhalten wir unsere sozialen Institutionen, wenn jeder Dritte in Deutschland älter als 60 Jahre alt ist – und weniger als ein Fünftel jünger als 20? Das ist eine jener Diskussionen, die wir mutiger führen müssen, wenn wir uns als klug debattierende und Zukunft gestaltende Demokratie selbst ernst nehmen wollen.

In der Gesundheitspolitik stehen wir schon mitten darin, Antworten für die Versorgung in strukturschwachen und von Abwanderung und Alterung betroffenen Gegenden zu finden. Vieles wird nur durch die beherzte Nutzung digitaler Möglichkeiten gelingen. Die Telemedizin, der sich die Ärzteschaft jetzt öffnet, Online-Sprechstunden, Fernbehandlung, E-Rezept – das sind Entwicklungen, die helfen werden. „Dörfer schließen“, wie Ökonomen es zuletzt empfahlen – das empfinde ich als Kind vom Land jedenfalls als das Szenario, das es zu vermeiden gilt.

Es gibt dabei auch Dinge, die sich, scheint mir, in den letzten Jahren zum Besseren verändert haben. Man musste vor Jahren immer wieder darauf bestehen, dass wir die Älteren mit ihrer Erfahrung noch brauchen und brauchen werden in Gesellschaft und Arbeitswelt. „Jugendwahn“ scheint inzwischen nicht mehr so sehr das Problem zu sein. Und Ältere arbeiten immer öfter länger – weil sie es wollen. Sie bringen sich heute vor allem auch sozial noch lange ein – wie nicht zuletzt die vielfältige Hilfe für Flüchtlinge gerade auch durch Ältere in den vergangenen Jahren gezeigt hat. Diese gute Entwicklung sollten wir unterstreichen, indem wir den Ansatz des Gesellschaftsjahrs altersübergreifend ausbauen.

Abschließend noch eines: Ich bin als Gesundheits- und Pflegeminister der größte Unterstützer einer aktiven Wirtschaftspolitik, die auf Wachstum und Dynamik setzt statt auf selbstzufriedene Bequemlichkeit. Denn erst muss erwirtschaftet werden, was wir in der sozialen Sicherung verteilen. Wir müssen Digitalweltmeister werden, um uns Gesundheit, Pflege, Rente in einer älter werdenden Gesellschaft leisten zu können. Nur noch auf den Glücksindex zu schauen statt aufs Bruttoinlandsprodukt, reicht nicht. Mit Glück allein bezahlt man keine Pflegekräfte! Wir brauchen auch in Zukunft nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum. Für unseren sozialen Frieden.

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