Spahn: "Unsere Gesellschaft hält die Einschnitte durch, solange sie gut nachvollziehbar begründet sind."
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Zeit-Interview über Folgen und Perspektiven der Corona-Pandemie
Die Zeit: Der Bundesregierung wird oft vorgeworfen, zu langsam auf die Corona-Epidemie reagiert zu haben. Ist das so?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Die Bundesregierung hat die Bedrohung durch das Coronavirus sehr früh sehr ernst genommen und besonnen und angemessen gehandelt. So eine Epidemie verläuft in unterschiedlichen Phasen. Zunächst ging es darum, zu verhindern, dass das Virus ins Land kommt. Bis Aschermittwoch ist das gelungen, da hatten wir in Deutschland 16 Infizierte, von denen 14 schon wieder gesund waren. Damals wären Maßnahmen, wie sie am Wochenende vereinbart wurden, nicht angemessen gewesen. Inzwischen sieht das anders aus.
Wie erleben Sie die deutsche Gesellschaft in den letzten Wochen?
Ich bin seit über zwanzig Jahren politisch aktiv. So viel Ermunterung und Rückmeldung habe ich selten bekommen. Jeder tut, was er kann, um diese Herausforderung zu meistern. Das ist gut. Die übergroße Mehrheit der Deutschen hat ihre Kontakte zu anderen stark eingeschränkt und bleibt so oft wie möglich zuhause. Die Unterstützung des medizinischen Personals, die Bereitschaft, älteren Nachbarn bei Einkäufen zu helfen – all das zeigt, dass es ein Wir-Gefühl gibt. Wir kämpfen als Gesellschaft gemeinsam entschlossen und geschlossen gegen Corona. Mich irritiert allerdings der dezidierte Ruf mancher nach immer härteren Maßnahmen.
Eine Sehnsucht nach autoritären Lösungen?
Eher ein menschlicher Zug, eine Unsicherheit. Da ist dieses Virus, das man nicht kennt, die Bilder von den Särgen in Italien und die Sorge um die eigene Familie. Da wünschen sich viele ein möglichst drastisches Durchgreifen. Das verstehe ich gut. Aber Vorschriften alleine reichen nicht. Allein mit Zwang halten wir diese Einschränkungen nicht durch. Der Verzicht muss vielmehr aus Einsicht geschehen. Sonst löst staatlicher Zwang früher oder später eine Gegenreaktion aus. Die Einschränkung mögen jetzt noch breit mitgetragen werden, auch in den Medien. Aber wir müssen uns die Frage der Verhältnismäßigkeit immer wieder neu stellen. In einem freiheitlichen Rechtsstaat werden diese Einschränkungen auf Dauer nicht hingenommen.
Manche warnen zum Beispiel schon vor einem Anstieg häuslicher Gewalt im Lockdown.
Selbst wenn man eine große Wohnung hat, ist es nicht immer leicht, 24 Stunden am Tag aufeinander zu hocken. Und nicht jeder hat eine große Wohnung. Dauerhaftes Zusammensein auf engem Raum – das hinterlässt Spuren. An den Notruftelefonen der Beratungsstellen sehen wir, wie sich die Lage verändert. Auch deswegen finde ich es wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürgern sich weiter draußen bewegen können. Nur halt mit Abstand zu anderen.
Ist das ‚Kontaktverbot‘ eine Ausgangssperre, die nur nicht so heißen darf?
Nein. Ich spreche lieber vom ‚Abstandsgebot‘. Man soll ja durchaus mal rausgehen, mit den Kindern oder dem Partner an frischer Luft spazieren gehen. Direkte persönliche Kontakte zu anderen aber sollen reduziert werden. Wir setzen darauf, dass die Menschen dem aus Einsicht und Vernunft folgen, und die meisten tun das ja auch.
Wie lange hält unsere Gesellschaft das durch?
Sie hält es solange durch, wie die Einschnitte nachvollziehbar begründet werden. Und so lange sie eine Perspektive hat, dass diese Zeit auch wieder endet. Mir ist sehr bewusst: So eine Situation gab es in unserer freiheitlichen Gesellschaft noch nie. Was machen Familien, in denen beide Elternteile arbeiten? Nehmen sie eine Pflegekraft. Sie müsste eigentliche zuhause bleiben, weil ihre Kinder nicht mehr in den Kindergarten gehen können. Gleichzeitig wird sie im Krankenhaus gebraucht. Was für ein emotionaler Stress! Und dann die Eingriffe in die Grundrechte, in den Alltag der Menschen: Versammlungsfreiheit. Gewerbefreiheit. Religionsfreiheit. Bewegungsfreiheit. Freiheit der Lehre – all das haben wir in großem Umfang eingeschränkt. Das geht nicht auf längere Zeit in einer freiheitlichen Bürgergesellschaft.
Dennoch bringen Sie in dieser Woche in Eiltempo ein Gesetz durch die Gremien, dass dem Bund und speziell Ihrem Haus sehr viel mehr Kompetenzen geben soll. Taugen die Instrumente also nicht, die Sie bislang haben? Steht der Föderalismus einer effizienten Pandemie-Bekämpfung im Weg?
Stimmt, der Bund soll in so einer nationalen Ausnahmesituation mehr Kompetenzen bekommen, aber nicht auf Kosten der Länder. Der Föderalismus zeigt in dieser Krise auch seine Stärke. Die Länder können auf ihre regionalen Besonderheiten viel gezielter reagieren als es der Bund könnte. Und wenn Bund und Länder zusammen einmal Beschlüsse fassen, haben wir 16 Landesregierungen, die diese Beschlüsse dann in die Fläche umsetzen. Das ist effektiv.
Warum dann neue Kompetenzen?
Weil es auch um nationale Fragen geht, die wir einheitlich beantworten müssen. Zum Beispiel, wenn wir regeln wollen, ob Flüge aus Infektionsgebieten nach Deutschland noch zulässig sind: Da ergibt es keinen Sinn, die für den Flughafen München zu erlauben, für Berlin aber nicht. Da braucht es landesweite Lösungen.
Anfangs war in Ihrem Gesetzentwurf auch die Nutzung von Handydaten zur Pandemie-Bekämpfung vorgesehen. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. Warum haben Sie darauf verzichtet?
Ich halte die Nutzung von Handydaten für eine hilfreiche und notwendige Maßnahme. Aber das müssen wir ausführlicher diskutieren, als es in einem Schnellverfahren möglich war.
Sie wollen also demnächst auf den Vorschlag zurückkommen?
Wir sehen, dass es einem demokratischen Staat wie Südkorea gelungen ist, mit diesem Verfahren das Virus zu bekämpfen und trotzdem das öffentliche Leben weitgehend aufrecht zu erhalten. Mithilfe der Handydaten konnten dort Kontakte von Infizierten schnell verfolgt und mögliche Infektionsgefahren lokalisiert werden. Die Betroffenen wurden dann gebeten, in Quarantäne zu gehen. Wer nach Wegen sucht, wie man aus all den aktuell notwendigen Einschränkungen der Freiheit wieder herausfindet, der kommt um die digitale Nachverfolgung von Kontakten, also um das Handy-Tracking, nicht herum - zeitlich auf den absoluten Krisenfall einer internationalen Pandemie begrenzt und nur unter strikten Bedingungen natürlich. Es geht nicht darum, den Datenschutz außer Kraft zu setzen. Es geht darum, öffentliches Leben in Zeiten der Epidemie wieder möglich zu machen. Dafür müssen wir auch über neue Lösungswege nachdenken.
Woran denken Sie?
An ein Gesamt-Konzept für den Weg aus der Krise. Daran arbeiten wir im Ministerium mit Hochdruck. Wie können wir Ältere, Hochbetagte, chronisch Kranke schützen, wenn das öffentliche Leben langsam wieder anläuft? Wie kommen wir zu guten Therapien? Wie schneller zu Impfstoffen? Natürlich: Momentan sind wir im Krisenmodus, reagieren täglich auf neue Situationen. Deswegen steht die Beschaffung von Schutzmasken ganz oben auf der Agenda. Aber die Frage, wie wir diesen Krisenmodus wieder verlassen, wird jeden Tag wichtiger.
Sie kümmern sich persönlich um den Maskenkauf?
Ja. Weil ich weiß, wie wichtig das für unser medizinisches Personal ist. Wie sehr Ärzte, Pflegekräfte – alle im Gesundheitswesen darauf warten. Seit letzter Woche haben sich die Preise, die in der Knappheit astronomisch geworden waren, wieder fast halbiert. China hat Exportverbote aufgehoben und die Produktion läuft wieder auf Hochtouren. Natürlich stehen wir bei der Beschaffung in Konkurrenz zu anderen Gesundheitsbehörden – beispielsweise denen der USA. Denn die Situation dort spitzt sich in einer Weise zu, die wir uns hier noch gar nicht so richtig klarmachen. Aber nur Masken organisieren, das reicht natürlich nicht. Die weitergehende Fragen: Was machen wir hier eigentlich, was macht das alles mit uns als Gesellschaft, und vor allem: wie kommen wir da wieder raus – die müssen wir genauso dringlich bearbeiten. Bis spätestens Ostern will ich darauf eine gute Antwort geben können.
Wie soll die aussehen?
Ich denke an Beschleunigen und Bremsen, an eine sorgfältige Balance zwischen Eigenverantwortung und staatlicher Kontrolle: Das Virus ist da, und es wird da bleiben. Vielleicht müssen wir uns darauf einstellen, dass es über Wochen bestimmte Ausgangsbeschränkungen immer mal wieder und zeitlich begrenzt geben wird, je nachdem, wie sich das Virus regional ausbreitet.
Sie glauben daran, dass man dem Land solche Eingriffe in Intervallen immer wieder zumuten kann?
Nur wenn sie richtig erklärt werden und die Bürgerinnen und Bürger sie nachvollziehen können. Denn sie schätzen ihre Freiheit, ich übrigens auch. Aber ich bin überzeugt: wir sind auch bereit, aus guten Gründen für eine bestimmte Zeit auf Teile davon zu verzichten. Wir sehen doch gerade, wie vernünftig und besonnen die überwiegende Mehrheit in unserem Land handelt.
Was bedeutet das für die Politik? Werden die Unterschiede zwischen den Parteien jetzt weniger wichtig?
Erstmal bin ich froh, dass uns alle Parteien und vor allem die Fachpolitiker aller Fraktionen unterstützen. Alle wissen, worauf es ankommt. Trotzdem bin ich überzeugt: das einzige größere Gremium, das in diesem Land auch jetzt noch tagen - und diskutieren! - sollte, das ist der Deutsche Bundestag. Ein Fußballspiel kann man absagen, eine Party auch, aber nicht die Sitzung des Parlaments, das aufgrund von freien Wahlen darüber entscheidet, welche Regeln in unserer Gemeinschaft gelten. Gerade in solchen Zeiten ist das wichtig.
Während der Flüchtlingskrise 2015 wurde oft kritisiert, dass es zu wenig Transparenz, Erklärung und Kontroverse gab. Hat die Koalition daraus gelernt? Die Kanzlerin hat jetzt sogar eine Rede an die Bürger gehalten...
Das sind durchaus Lehren aus 2015, aber nicht nur der Politik, auch der Medien. Die Beschränkungen, die wir jetzt einführen, kann man mit guten Gründen verteidigen, aber eben auch kritisieren. Dieser Diskurs ist wichtig. Ohne Meinungsvielfalt keine Demokratie. Das müssen wir uns erhalten, gerade auch in Krisenzeiten. Wir alle haben ein Anrecht darauf, dass unsere Argumente und Anliegen ernst genommen werden.
Hat sich die Richtung der gesellschaftlichen Wut verändert: während in der Klimadebatte die Jungen über den Alten zu Gericht saßen, knöpfen sich jetzt die Alten die Jungen vor?
Nein. Die große Mehrheit hilft mit, ganz unabhängig vom Alter. Wir dürfen auch nicht die einen gegen die anderen ausspielen, etwa mit Fragen wie: Könnt ihr nicht einfach die Älteren isolieren, und alle anderen leben weiter, wie gehabt?
Was erwidern Sie da?
Wenn man mal die Radikalität solcher pauschalen Aussagen abzieht, bleibt ein wahrer Kern: Wir brauchen Konzepte, die speziell auf Ältere und chronisch Kranke zugeschnitten sind. Wenn wir sie schützen, können wir gleichzeitig an anderen Stellen wieder normales Alltagsleben ermöglichen. Wir werden die Älteren also möglicherweise über mehrere Monate bitten müssen, ihre Kontakte stark einzuschränken und im Zweifel zuhause zu bleiben. Wir müssen dafür gemeinsam solidarische Lösungen finden, die die Betroffenen bestmöglich unterstützen, Versorgung und soziales Miteinander über neue Kanäle zu organisieren.
Wie steht es um die europäische Solidarität? Hilft Deutschland seinen Nachbarn genug?
Ich habe sehr gute, teils tägliche Gespräche mit meinen italienischen und französischen Kollegen. Wir reden sehr offen. Und wir wollen helfen. Wir haben beispielsweise 300 Beatmungsgeräte nach Italien geschickt. Gleichzeitig haben wir selbst Bedarf. Wenn in drei Wochen hier bei uns die Geräte knapp werden sollten, wird man mich zurecht fragen, warum diese Geräte oder die Masken nicht mehr in Deutschland sind. Es ist für alle in Europa schwer, weil es uns fast zeitgleich trifft. Und weil es alle hart trifft.
Wenn Sie die Bilder von chinesischen oder kubanischen Hilfslieferungen sehen, die in Italien ankommen – verliert Europa da gerade eine Propagandaschlacht?
Wir helfen uns doch gegenseitig. Ich sehe auch die Bilder von elsässischen und italienischen Patienten, die in Kliniken nach Heidelberg oder Dresden gebracht werden. Und auch wir haben den Chinesen nach Ausbruch der Epidemie geholfen, mit tonnenweise Material und Experten. Jetzt helfen die Chinesen uns. Das freut mich.
Wie gut sind die Krankenhäuser auf das vorbereitet, was jetzt kommt?
Bei allen Schwierigkeiten: Wir haben immer noch eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Das zahlt sich jetzt aus. Fast alle Krankenhäuser bereiten sich intensiv auf das vor, was kommt. Dabei unterstützen wir sie finanziell erheblich. Und wenn das nicht reichen sollte, werden wir nachlegen. Mein Versprechen gilt: Wir halten den Krankenhäusern in dieser Epidemie den Rücken frei.
Wo sind die Schwachstellen des Systems?
Es fehlen uns Masken und Schutzkleidung. Generell werden wir in Zukunft mehr davon bevorraten müssen, auch wenn das Geld kostet. Wir haben auch gute Pandemie-Pläne. Aber wir haben sie nicht genug geübt. Auch das müssen wir ändern.
Der Druck auf Pfleger und Ärzte in den Kliniken ist nicht erst mit Corona entstanden.
Das Thema Pflege beschäftigt mich seit zwei Jahren: wie finden wir mehr Pflegekräfte, wie können wir die Arbeitsbedingungen verbessern, wie sie besser bezahlen? Es melden sich viele Ärzte und Pflegekräfte, die längst aus dem Beruf ausgeschieden sind, um zu helfen. Medizinstudenten übrigens auch. Da ist noch ein großes Potential an Fachkräften. Das müssen wir heben.
Wird jeder, der sich ein den nächsten Wochen ein Bein bricht, oder einen Herzinfarkt erleidet, sicher mit einer guten Versorgung rechnen können?
Ja.
Was bedeutet die Corona-Krise für die CDU und ihre ungelöste Führungsfrage?
Gerade jetzt interessiert die meisten Menschen nicht besonders, wer Parteivorsitzender ist oder wird. Sie erwarten einfach, dass wir gut regieren. Und dass wir unser Land gut durch diese Krise bringen.
Die Fragen stellten Mariam Lau und Heinrich Wefing