Lauterbach: Wegen BA.5-Variante werden die Fallzahlen steigen

In der Welt am Sonntag sprach Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach über die aktuelle Corona-Lage und darüber, was uns im Herbst erwartet.

Welt am Sonntag: Herr Lauterbach, wie wird der Corona-Herbst?

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: Der Corona-Herbst wird kein Zuckerschlecken. Wir werden mit der BA.5-Variante zumindest am Anfang einen Anstieg der Fallzahlen erleben. Insbesondere dann, wenn der Aufenthalt in Innenräumen wegen der kalten Temperaturen zur Regel wird. Es wird dann zu Ausfällen in den Betrieben und der kritischen Infrastruktur kommen, etwa in Krankenhäusern. Es stehen uns also schwierige Zeiten bevor. Dabei haben wir schon jetzt zwischen 100 und 150 Corona-Tote pro Tag. Meine Sorge ist, dass diese Zahl noch steigen könnte. Das ist nicht vertretbar.  Daher müssen wir gut vorbereitet sein. Und wir sind es, wenn der Bundestag die vorgelegten Änderungen zum Infektionsschutzgesetz beschließt.

Das Gesetz ermöglicht es den Ländern, etwa in Restaurants oder Fitnessstudios eine Maske vorzuschreiben, sofern die Bürger nicht getestet sind oder keinen Impf- oder Genesenennachweis haben. Halten Sie das für praktikabel?

Ja. Mit solchen Zugangsbeschränkungen haben wir doch Erfahrung. Ins Fitnessstudio werden die Menschen nur ohne Maske gehen wollen. Ich bin fest davon überzeugt: Die meisten werden sich testen lassen. Und auch in den Restaurants kenn wir doch Corona-Kontrollen am Eingang. sind wir doch Corona-Kontrollen am Eingang. Wir schlagen das ja nicht einfach aus Spaß vor, es geht um den Schutz der Bevölkerung vor Ansteckung und möglichen schweren Krankheitsverläufen. Durch grüne Nachweise frischer Impfungen oder Genesungen auf der Corona-Warn-App wird die Kontrolle viel einfacher.

Wann rechnen Sie damit, dass die Länder die 3G- oder Maskenregel verhängen werden?

Das hängt sehr stark von den Fallzahlen ab. Wenn die Fallzahlen deutlich steigen rechne ich damit, dass viele Länder die Regeln schon Anfang Oktober breit nutzen werden. Ansonsten kommen wir in eine Situation, in der die medizinische Versorgung gefährdet sein könnte.

Gleich nach Veröffentlichung der Novelle des Infektionsschutzgesetzes kam die Kritik auf, es fehle an Klarheit, von welchem Infektionsstand an die Bundesländer strengere Regeln aufstellen. Was also sind die Grenzwerte und ab wann sollen/müssen die Bundesländer handeln?

Der Wunsch nach einfachen Grenzwerten zur Beurteilung der Corona-Lage ist so verständlich wie irreführend. Jedem Landesgesundheitsminister mit Pandemie-Erfahrung sollte klar sein, dass das Infektionsgeschehen weitaus komplexer ist als drei oder vier Zahlen. Aber richtig ist, dass wir einen besseren Überblick brauchen. Aber den schaffen wir. Das Pandemie-Radar, das wir momentan ausbauen, wird den Ländern einen guten Eindruck geben, wie sich die Lage entwickelt. Eine gut begründete Gefahr für das Bundesland im Lichte vieler einzelner Parameter gibt die beste Rechtssicherheit.

Im Restaurant wird die Maske nur auf ein paar Metern zwischen Tisch und Toilette getragen. Werden so tatsächlich Ansteckungen verhindert?

Ja. Jeder Moment, in dem Sie die Maske tragen, bedeutet mehr Schutz. Außerdem geht von der Maske immer auch ein Signal aus: an diesem Ort kann man sich infizieren. Das macht Menschen vorsichtig.

Wird die Maske also zum Symbol?

Nein. Sie ist kein Symbol, sie schützt ja gut in Innenräumen. Grundsätzlich werden Restaurants, Fitnessstudios OFT per Hausrecht entscheiden, wie sie die Regeln anwenden. Sie können zum Beispiel vorgeben, dass nur Leute mit Maske reinkommen oder nur diejenigen, die getestet sind. Oder die Kombination: Getestete, Genesene, Geimpfte. Es gibt mehrere Optionen.

Als geimpft gelten in dem Fall nur diejenigen, deren Impfung nicht länger als drei Monate zurückliegt. Fragen sich dann nicht viele Bürger: Lohnt sich überhaupt noch eine Impfung, wenn diese nach drei Monaten sowieso an Wert verliert?

Der Wert läge dann ja nur darin, dass man keine Maske tragen muss. Viele Menschen lassen sich aber impfen, weil sie sich vor Ansteckung und schwerer Krankheit schützen wollen. Außerdem kann es sein, dass die Phase der drei Monate noch verlängert wird. Wir haben im Gesetzentwurf vorgesehen, dass sofern der Schutz der Impfstoffe vor Infektion doch länger andauern sollte, wir die drei Monate anpassen können.

Bisher sollten Impfstoffe vor allem vor schweren Verläufen schützen, jetzt sollen sie eine Infektion verhindern. Warum dieser Strategiewechsel?

Weil sich die Möglichkeiten der Impfung verändert haben. Die bisherigen Impfstoffe haben, zumindest bei Omikron, nur sehr kurz vor Ansteckung geschützt und auch nur dann, wenn man vier Mal geimpft wurde. Im September bekommen wir aber drei neue Impfstoffe, die an Omikron angepasst sind und voraussichtlich auch vor einer Ansteckung schützen. Darauf reagieren wir.

Für einen Schnelltest müssen die meisten Bürger im Testzentrum selbst bezahlen. Planen Sie eine Rückkehr zu kostenlosen Tests für alle, wenn diese im Herbst wieder verpflichtend sein sollten?

Die aktuelle Regelung wird so bleiben. Die aktuelle Finanzlage erlaubt es dem Finanzminister auch nach langer Verhandlung nicht, wieder kostenlose Tests für alle einzuführen. Daher gibt es auch keine Testpflicht. Sondern nur eine Maskenpflicht. Allerdings kann es sein, dass die Bundesländer die Regelung nutzen werden, dass diejenigen, die frisch geimpft oder genesen sind, keine Maske tragen müssen – auch ohne Test.

Sie wollen in Schulen ab der 5. Klasse eine Maskenpflicht ermöglichen. Haben Kinder nicht schon genug durchgemacht?

Mit meiner Aufgabe als Gesundheitsminister ist es nicht zu vereinbaren, dass Kinder massenhaft erkranken. Die Durchseuchung einer ganzen Generation ist unverantwortlich. Da geht es um Millionen von Kindern. Das können wir nicht riskieren. Noch wissen wir nicht, was diese Infektion, wenn sie wiederholt auftritt, mit dem Immunsystem der Kinder macht. Das Risiko massenhafter Infektionen in der Schule können wir als Gesellschaft nicht eingehen.

Das Infektionsschutzgesetz enthält für den Notfall den derzeit stillgelegten Maßnahmenkatalog aus dem vergangenen Winter, also die epidemische Lage. Halten Sie es für möglich, dass diese im Winter aktiviert werden muss?

Ich hoffe, dass es nicht zu einem gravierenden Variantenwechsel kommt. Wenn er ausbleibt, dann werden wir nicht in so eine epidemische Lage kommen. Trotzdem brauchen wir für den Notfall Werkzeuge. Viele Menschen glauben fälschlicherweise, dass sich im Laufe einer Pandemie immer nur die leichteren Varianten durchsetzen. Das ist ein Irrtum. Es gibt keinen Selektionsvorteil für leichtere Varianten. Wir müssen auf alles gefasst sein. 

Sie haben die Stiko zu einer schnelleren Entscheidung bezüglich der vierten Impfung gedrängt. Warum mischen Sie sich immer wieder in deren Angelegenheiten ein? 

Ich schätze die Arbeit der Stiko und stehe häufig mit Herrn Mertens im Kontakt. Aber ich fühle mich als Wissenschaftler und Minister, der gleichzeitig eng mit internationalen Experten zusammenarbeitet, verpflichtet, die Bürger nach bestem Wissen und Gewissen in Kenntnis zu setzen, wenn ich neue verlässliche Studienergebnisse lese. Bei der zweiten Boosterimpfung für die ab 60-Jährigen war das der Fall. Die Erkenntnislage ist schon seit Monaten eindeutig. Viele Länder wie Israel, die USA und Großbritannien haben darauf längst reagiert. Es war aus meiner Sicht also nur eine Frage der Zeit, dass die zweiter Boosterimpfung für die ab 60-Jährigen auch hierzulande empfohlen wird. 

Wie weit sind wir mit dem endemischen Stadium?

Das Virus hat sich zu stark durch Mutationen verändert und tut es immer noch. Deswegen ist das endemische Stadium noch nicht erreicht. Ich hoffe, dass wir im nächsten Jahr nasale Impfstoffe bekommen, also solche, die man nasal sprüht, um den Schleimhäuten eine Immunität zu verschaffen. Diese nasalen Impfstoffe könnten die Ansteckung potentiell deutlich reduzieren. Abgesehen davon bleibt die große Frage: Wieviel von seinem Potenzial hat das Virus schon verspielt? Wieviel Potenzial für Mutationen ist schon verbraucht? Leider haben wir darauf noch keine verlässliche Antwort.

Wie könnte der Umgang mit Covid langfristig aussehen: Maske und Booster-Impfung im Winter und sonst weitgehende Normalität?

Dieses Virus hat uns immer wieder überrascht. Deswegen wäre eine langfristige Prognose vermessen. Aktuelle Studien zeigen aber, dass dieses Virus sein Potenzial für Mutationen leider noch lange nicht ausgeschöpft hat. Die These mancher Wissenschaftler, dass diese Pandemie jetzt ganz schnell zur Endemie wird, ist gewagt und wird in internationalen Spitzenuniversitäten meist nicht geteilt. Wie wir alle wünsche ich mir das. Aber ob und wann es so kommt, ist ungewiss. Ich baue eher darauf, dass die Impfstoffentwickler schneller sind als das Virus. Dann bräuchten wir auch keine Masken mehr.

Sie sagten, die nasalen Impfstoffe würden die Wahrscheinlichkeit einer Infektion stark reduzieren. Aber ist das nicht das, was wir auch von den angepassten Impfstoffen erwarten, die im September/Oktober kommen sollen? 

Die kommenden Impfstoffe werden  vor allem gegen die Varianten BA.4 und BA.5 wirken. Dagegen könnten die nasalen Impfstoffe gegen zahlreiche weitere Varianten wirksam sein. Doch die Erforschung dieser Impfstoffe wird dauern. Leider muss ich sagen: Deutschland steht im internationalen Vergleich bei der Arbeit an diesen Impfstoffen nicht gut da. Es fehlt schlichtweg an Forschungsgeldern. Das muss sich ändern. Wenn es darum geht, durch nasale Impfstoffe die Pandemie letztlich zu besiegen, dann müsste alles Notwendige dafür getan werden, sie auch zu entwickeln. Wir wollen hier doch nicht in zwei Jahren immer noch sitzen und über neue Corona-Ausbrüche reden. Und keiner glaube: Je öfter man sich infiziert, desto besser würden Abwehrkräfte. So funktioniert es bei Covid nicht. Gerade bei älteren Menschen wird die Abwehr nach einer Infektion nicht besser. Wenn uns ein Impfstoff durch die Nase schützen könnte, dann sollten wir alles dafür tun, ihn zu entwickeln.

Im Dezember läuft die temporäre Impfpflicht ab. Soll Sie verlängert werden?

Eines der Hauptziele unserer Pandemiepolitik war und ist es, besonders die vulnerablen Gruppen zu schützen – die Alten, die Kranken. Deswegen macht es auch Sinn, dass diejenigen, die sie betreuen, nicht selbst zur Gefahr werden. Der eigene Impfschutz gehört für mich zum beruflichen Selbstverständnis von Ärzten und Pflegekräften.

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