Spahn: „Eine gute Versorgung funktioniert nur zusammen mit den Ärztinnen und Ärzten, nicht gegen sie.“

Über die Digitalisierung des Gesundheitswesen, Mindestsprechstundenzeiten und die Impfpflicht sprachen Jens Spahn und Bundes­ärzte­kammerpräsident Frank Ulrich Montgomery im Doppelinterview mit Rebecca Beerheide und Egbert Maibach-Nagel vom Ärzteblatt.

Herr Minister Spahn, in Ihrer Rede beim Deutschen Ärztetag 2018 in Erfurt haben Sie betont, dass es ein Miteinander und kein Gegeneinander geben müsse. Wie sehen Sie das nun ein Jahr später?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Genau so. Eine gute Versorgung funktioniert nur zusammen mit den Ärztinnen und Ärzten, nicht gegen sie. Patienten würden das sonst auch sehr schnell spüren. Auch deswegen werbe ich dafür, zunächst gemeinsame Ziele zu benennen, bevor man sich über den Weg dorthin unterhält. Nehmen Sie das Terminservicegesetz (TSVG). Da verfolgen Ärzte und Minister gleiche Interessen. Denn letztlich geht es darum, das objektiv größte Legitimationsproblem unseres dualen Kran­ken­ver­siche­rungssystems zu lösen: die Terminvergabe. Und das ist kein gefühltes, sondern ein tatsächliches Problem.

Noch ein Rückblick: Im Interview mit uns im Juli 2018 hatten Sie gesagt: „Im Zweifel ist das Ministerium am Zug.“ Damals schienen viele das noch nicht zu glauben – in den vergangenen Monaten haben Sie gezeigt, wie sehr das BMG und Sie Einfluss nehmen, wenn Diskussionen lange dauern.

Spahn: In einem lebenswichtigen Bereich wie Gesundheit muss der Staat funktionieren. Dafür muss ich als gewählter Politiker und zumal als Ge­sund­heits­mi­nis­ter sorgen. Das heißt: Probleme kann ich nicht auf Dauer bei der Vorgängerregierung, bei der Selbstverwaltung oder eben bei den Ärzten abladen. Ich muss sie selber lösen. Das erwarten die Patienten und Wähler zu Recht. Das bedeutet aber nicht, dass wir alles alleine entscheiden. Sondern das heißt, dass wir die notwendigen Debatten erst anstoßen, dann führen und schließlich zu einer Entscheidung bringen. Und das heißt auch, dass wir gute Argumente aufgreifen und unsere Gesetzentwürfe anpassen. Nehmen Sie wieder das Terminservicegesetz: Das sah anfangs auch anders aus. Jetzt steht darin, dass wir zusätzliche Leistung von Ärztinnen und Ärzten mit insgesamt 800 Millionen Euro zusätzlich vergüten. Für jeden zusätzlichen Patienten, für jeden Patienten in offener Sprechstunde, für jeden Patienten, der über Terminservicestelle vermittelt wird, für jeden Patienten, der vom Hausarzt zum Facharzt vermittelt wird, gibt es mehr Honorar.

Herr Montgomery, wie sehen Sie denn die Entwicklung des vergangenen Jahres?

Bundes­ärzte­kammerpräsident Frank Ulrich Montgomery: Wenn wir immer einer Meinung wären, wäre einer von uns beiden sicherlich überflüssig ...

Spahn: ... oder im falschen Amt.

Montgomery: Oder im falschen Amt! Wir haben die Pflicht, die Interessen von Patienten und von Ärzten zu vertreten. Und da sind der Minister und ich nicht immer einer Meinung. Beim TSVG habe ich immer gesagt, dass es auch gute Seiten gibt. Herr Spahn sagte es gerade: Das Gesetz sieht zum Beispiel vor, dass neue Aufgaben auch zusätzlich vergütet werden. Es ist eine alte Forderung der Ärzteschaft, dass das Geld der Leistung folgen sollte. Teilweise sind wir damit bei der Politik durchgedrungen. Aber die Eingriffe des Staates in die individuelle Praxisführung und in die Arbeit der Selbstverwaltung sind inakzeptabel und schädlich. Gerade junge Ärzte schreckt das ab. Wir brauchen nicht starre politische Vorgaben. Gefragt sind flexible Lösungen, die sich an den Bedürfnissen der Patienten und an denen der jungen Ärztegeneration orientieren. Alles in allem darf man sich nicht wundern, dass der Streit um die 20 oder 25 Stunden Mindestsprechstundenzeit oder die Einrichtung der Terminservicestellen den Blick auf die positiven Elemente des Gesetzes verdeckt. Es bleibt halt der fade Nachgeschmack eines dirigistischen Eingriffs in die Freiberuflichkeit.

Waren die 25 Stunden Mindestsprechstunde möglicherweise ein Kommunikationsfehler von Ihnen, Herr Spahn?

Spahn: Zunächst einmal: Die Idee von Mindestsprechzeiten ist ja nicht von mir. Es ist ein Kompromiss zwischen zwei Koalitionspartnern, damit diese überhaupt miteinander regieren können. Ich verstehe aber, dass sich die Ärztinnen und Ärzte nicht darüber freuen, wenn wir in die Praxisorganisation eingreifen. Allerdings gab es Mindestsprechzeiten schon vorher. Und außerdem sagen ja 90 Prozent der Ärzte, dass sie ohnehin mehr als 25 Sprechstunden pro Wochen anbieten. Daher verstehe ich dann den heftigen Protest nicht. Zumal die Mehrarbeit belohnt wird.

Was war denn der Aufreger an diesen 25 Stunden?

Montgomery: Das kratzt am Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte. Die Kolleginnen und Kollegen arbeiten am Limit und die Politik unterstellt auf emotionaler Ebene, vermeintliche Versorgungsengpässe würden von unzureichenden Sprechstundenzeiten herrühren. Natürlich ist das ein Aufreger. Dazu kam, dass Karl Lauterbach Ärzte hauptsächlich auf dem Golfplatz vermutete. Alles in allem erkennen wir durchaus die positiven Seiten des Gesetzes an, kämpfen aber engagiert gegen die aus unserer Sicht falschen Neuregelungen. Aber auch Sie, Herr Minister, sind ja wie ich ein Freund der lebendigen Debatte.

Spahn: Ich bin sehr für die lebendige Debatte. Aber sie muss faktenbasiert sein, nicht polemisch. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum zum Beispiel Sie, lieber Herr Montgomery, das Terminservicegesetz zuletzt als „reinen Populismus“ bezeichnet haben. Warum erklären Sie ihren Ärzten nicht, dass viele nicht negativ vom TSVG betroffen sind, dass die allermeisten aber sehr davon profitieren? Sie müssten eigentlich verstanden haben, dass nicht alle Ärzte so ein Gesetz komplett lesen.

Montgomery: Vor allem wenn es sich so schnell und so oft ändert.

Spahn: Jetzt ist es Gesetz. Und jetzt geht es um Fakten. Meine Erfahrung ist: Wenn man Ärzten vor Ort das Gesetz erklärt, verfliegt der Ärger ziemlich schnell. Da würde ich mir von der gemeinsamen Selbstverwaltung mehr Unterstützung wünschen. Vor allem mehr Ehrlichkeit und Sachlichkeit.

Wenn wir die andere Seite der gemeinsamen Selbstverwaltung ansehen, dann liegen Sie mit den Krankenkassen gerade eher über Kreuz beim „Faire-Kassenwahl-Gesetz“ und dem Risiko­struk­tur­aus­gleich.

Spahn: Unser Gesundheitssystem lebt von einem fairen Wettbewerb. Nur wenn die Rahmenbedingungen stimmen, können die Versicherten zu vernünftigen Preisen gut versorgt werden. Wenn aber von den zehn größten Krankenkassen nur vier bundesweit frei wählbar sind, kommt der Wettbewerb in eine Schieflage. Und wenn es Anreize fürs Codieren gibt, auch. Beim Risiko­struk­tur­aus­gleich verteilen wir mehr Geld als beim Länderfinanzausgleich. Deshalb brauchen wir auch hier eine gute, aber unaufgeregte Fachdebatte.

Sie sprechen oft von der Legitimation von politischen Entscheidungen, die offenbar im Gegensatz zu den langsamen Entscheidungen der Selbstverwaltung stehen. Muss es dahin gehen – wie wir es beispielsweise bei IT-Projekten sehen –, dass es alle acht Wochen neue Entscheidungen und Ergebnisse gibt?

Spahn: Wir haben in der Tat viele Gesetze angestoßen. Aber das ist ja kein Selbstzweck. Das musste sein. Denn es gab und gibt immer noch viele Debatten, die wir jahrelang in Endlosschleifen geführt, aber nie zu einer Entscheidung gebracht haben. Ein Beispiel ist die Fernbehandlung. Ich bin dem Deutschen Ärztetag sehr dankbar, dass wir hier einen Schritt weitergekommen sind. Oder nehmen Sie die Organspende, die Impflicht bei Masern: Seit 20 Jahren laufen diese Debatten, immer wieder, mit denselben Argumenten. Das müssen wir auflösen – indem wir die Probleme noch einmal benennen, noch einmal intensiv diskutieren und dann aber endlich lösen.

Es bleibt übrigens auch für die nächsten Monate noch viel zu tun. Und vieles davon betrifft auch Ärzte: die OTA-Reform, neue Regeln für die Prüfung von Krankenhausabrechnungen, die Umstrukturierung des Medizinischen Dienstes, die Masernimpfpflicht oder die Apothekenreform. Es wird um neue Notfallstrukturen gehen und natürlich die Digitalisierung. Wir haben weiterhin eine hohe Schlagzahl.

Bleiben wir bei der Impfpflicht: Reicht die für Masern aus?

Spahn: Gegen Masern gibt es einen sicheren Impfstoff. Der ist seit Jahren getestet. Und Masern ist eine hoch gefährliche und hoch ansteckende Krankheit. Einer von tausend Patienten stirbt daran. Mit der Impfpflicht schützen wir Kinder, damit sie sich und andere nicht gefährden. Wir haben uns in der Welt­gesund­heits­organi­sation dazu verpflichtet, Masern auszurotten. Dazu muss Deutschland seinen Beitrag leisten.

Montgomery: Auch bei den Pocken haben wir die Ausrottung mit einer Impfpflicht geschafft, die sogar 1959 vom Bundesverwaltungsgericht als grundgesetzkonform bestätigt wurde. Bei diesem Thema passt zwischen die Bundes­ärzte­kammer und den Minister kein Blatt. Ich möchte aber dazu raten, die Impfpflicht auf andere Viren auszuweiten. Wenn also eine Kommission oder das Robert-Koch-Institut festlegt, welche Impfungen gegen Viren, die wir vielleicht noch gar nicht kennen, hilfreich sind, dann sollte das ohne ständige parlamentarische Verfahren möglich sein.

Spahn: Das würde nicht funktionieren. Eine Impfpflicht bedeutet immer auch einen Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen. Die muss parlamentarisch legitimiert sein. Da reicht der Beschluss einer Behörde nicht. Der Ärzteschaft bin ich aber dankbar, dass sie bei diesem Vorschlag hinter mir steht.

Eine Impfpflicht soll also zunächst auf Masern beschränkt werden, aber später folgen weitere Indikationen?

Spahn: Nein. Aber mich ärgert, dass wir bei einer der größten Errungenschaften der Medizin, dem Impfen, immer noch so viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Eine Kampagne wie „Deutschland sucht den Impfpass“ sollte in unserer Zeit eigentlich nicht mehr nötig sein. Aber ich setze darauf, dass die Impfpflicht die Menschen zum Nachdenken bringt. Dass sie überprüfen, ob sie alle Impfungen haben. Dabei kann übrigens auch ein digitaler Impfpass helfen. Das ist der nächste Schritt.

Montgomery: Man muss mit den Menschen reden, auch wenn wir nicht alle erreichen. Ich glaube, im Kern sind viele Menschen keine Gegner, sondern Impf-Schlamper, die schlicht die Termine vergessen. Aber auch unter den Medizinern gibt es einige echte Impfgegner. Da müssen wir uns auch als Ärztekammern eine Meinung bilden, wie wir mit diesen Unbelehrbaren, die es eigentlich besser wissen müssen, umgehen.

Der digitale Impfpass ist angesprochen: Herr Spahn, wie digital soll künftig ein Arztbesuch aus Ihrer Sicht sein?

Spahn: Zunächst einmal: Den direkten Arzt-Patienten-Kontakt werden wir nie komplett ersetzen können, das wollen wir auch gar nicht. Aber ein Patient wird sich in naher Zukunft trotzdem die Frage stellen: Muss ich mit jeder Erkrankung überhaupt noch eine Arztpraxis betreten? Oder reicht eine App? Reicht eine Onlinesprechstunde? Die Ärzteschaft hat sich hier bewegt. Und das begrüße ich ausdrücklich. Auch, dass sich jetzt sogar der Bewertungsausschuss mit der Honorierung der Onlinebehandlung auseinandersetzt, ist richtig und wichtig. Denn die Digitalisierung des Gesundheitswesens wird sich nicht aufhalten lassen. Wir müssen sie gestalten und die Chancen nutzen. Und zwar im Sinne der Patienten. Wenn in zwei, drei Jahren die digitale Patientenakte die Regel ist, dann stehen den Ärzten Informationen über Medikamente, über Blutwerte, Notfalldaten sowie Impfdaten zur Verfügung. Das hilft auch bei der ärztlichen Tätigkeit und Diagnose. Ich habe aber das Gefühl, dass es einige als Kränkung empfinden, wenn künstliche Intelligenz ihnen bei der Diagnose helfen soll.

Gibt es da eine Kränkung, Herr Montgomery?

Montgomery: Nein. Früher mag es Unsicherheiten gegeben haben. Das ist auch kein Wunder, weil die Digitalisierung viele Kernbereiche des ärztlichen Berufsbildes berührt. Mittlerweile zeigen aber viele Veranstaltungen und Umfragen, dass Ärzte längst nicht mehr über das „ob“, sondern über das „wie“ diskutieren. Und das ist auch gut so. Schließlich geht es um digitale Assistenz und nicht um digitale Substitution. Und genau deshalb brauchen wir eine Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen, die ethische Grundlagen zum Umgang mit neuem Wissen und Methoden schafft, die Grundsätze des Datenschutzes definiert und Antworten auf offene Finanzierungsfragen gibt. Übrigens gehört die Digitalisierung ja gerade in meinem Fachbereich, der Radiologie, längst zum Arbeitsalltag und wir können hier auch sehr gute Erfolge zeigen. Aber bei der Onlinesprechstunde bin und bleibe ich kritisch: Die wird aus meiner Sicht überschätzt. Im Deutschen steckt in dem Wort „Behandlung“ auch das Wort „Hand“. Eine Onlinesprechstunde wird den Goldstandard, den physischen Kontakt zwischen Ärzten und Patienten, nicht ersetzen.

Spahn: Das stimmt. Trotzdem glaube ich an die normative Kraft des Faktischen. Die Onlinesprechstunden werden eine starke Dynamik entfalten. Einfache Abklärungen werden der Normalfall sein. Ich bin auch überzeugt davon, dass es Menschen gibt, die zu Unzeiten Ärzte online sprechen wollen. Und es wird Ärzte geben, die genau das anbieten. Der Patient ist dann in Frankfurt und wird mit einem Arzt beispielsweise in Lübeck verbunden. Und der empfiehlt ihm dann, was zu tun ist: Ruhe bewahren, morgen in die Arztpraxis oder jetzt ins Krankenhaus.

Montgomery: Natürlich wird es dafür eine Nachfrage geben. Viel relevanter werden aber Mischformen sein, also telemedizinische Angebote gekoppelt mit Präsenzterminen beim Arzt oder in der Klinik. Das wird sicher weiter ausgebaut. Aber der Regelfall wird auch in Zukunft der Gang zum Haus- oder Facharzt sein. Ich bin sicher, dass 80 Prozent nach wie vor ihrem Hausarzt vertrauen werden. Der persönliche Kontakt in der Arztpraxis wird der Goldstandard bleiben.

Spahn: Wir können ja in fünf Jahren die Situation gemeinsam bewerten.

Montgomery: Sehr gerne.

Zeitlich näher liegt ja die Umsetzung der elektronischen Patientenakte. Um hier zu beschleunigen, hat das BMG sich nun 51 Prozent an der gematik gesichert. Warum brauchen Sie diese Anteile?

Spahn: Wir können uns weitere drei oder vier Jahre Wartezeit nicht leisten. Wir haben jetzt die Aufgabenteilung klarer geregelt, auch was Ärzteschaft und Krankenkassen zu tun haben. Diese neuen Zuständigkeiten sollen jetzt zügig den Mehrwert schaffen für Patienten und Ärzte. Denn dieser fehlende Mehrwert ist ja Teil des Akzeptanzproblems, den die elektronische Gesundheitsakte momentan noch hat.

Montgomery: Widerspruch: Ich bezweifle, dass Sie es mit dieser Verstaatlichung bei der gematik schaffen, die unbestreitbare Langsamkeit zu beenden. Damit sind wir übrigens wieder beim Thema Einflussnahme auf die Arbeit der Selbstverwaltung. Im Koalitionsvertrag steht noch das klare Bekenntnis der Regierung zur Selbstverwaltung. Jetzt aber soll die Selbstverwaltung in der gematik mit einem politischen Eingriff ausgehebelt werden. Das passt nicht zusammen. In Sachen Telematik war die Aufgabenbeschreibung im Gesetz von Beginn an falsch.

Spahn: Wenn 15 Jahre nichts passiert ist, dann müssen wir reagieren. Aber ich sehe ein viel größeres Problem darin, dass ein zu großer Teil der Vertragsärzteschaft sich nicht an die Tele­ma­tik­infra­struk­tur (TI) anschließen lässt. Das System kann nicht mit zehn oder 20 Prozent Verweigerern funktionieren. Wir müssen hier fast 100 Prozent erreichen. Mich wundert, dass diese Praxisinhaber offenbar lieber in Kauf nehmen, ein Prozent vom Umsatz abgezogen zu bekommen, als sich an die gesetzliche Frist vom 30. Juni zu halten. Welche Motivation steckt dahinter? Wenn sich viele verweigern, müssen wir noch einmal nachdenken, wie wir darauf reagieren.

Montgomery: Ich kann Ihnen sagen, woran das liegt: Schlechte Erfahrungen und hohe Kosten, die bislang zu nichts geführt haben. Ärzte wurden schon zu oft aufgefordert, etwas zu bezahlen, für das sie keinen Nutzen hatten. Außerdem hat auch die Industrie nicht alle Produkte fristgerecht geliefert. Es gibt nicht so viele grundsätzliche Verweigerer.

Spahn: Ich meine das sehr ernst: Wenn wir die nächsten zwei, drei Jahre die elektronische Patientenakte nicht ans Fliegen bekommen, dann werden wir auch im europäischen Vergleich deutlich hinterher sein. Die Patienten nutzen die ganzen Apps doch schon und laden die Daten bei Google hoch. Leider!

Fernbehandlung im symbolischen Sinne: Zu den nun anstehenden Europawahlen hat die Bundes­ärzte­kammer erstmals einen Wahlaufruf gestartet. Warum?

Montgomery: Von der Europawahl geht eine ganz große Wirkung aus. Es geht darum, das Vertrauen der Bürger in die EU zurückzugewinnen. Weil ich in meinem Amt auch in der Europapolitik unterwegs bin, hoffe ich, dass wir eine EU-Kommission bekommen, die sich wieder mehr der Zivilgesellschaft zuwendet und weniger der Industrie. Wir brauchen ein starkes europäisches Parlament und eine EU-Kommission, die sich mehr um die Menschen kümmert, statt um Konzernbilanzen. Außerdem sollte die neue EU-Kommission nicht in die nationalen Gesundheitssysteme eingreifen. Und noch ein Problem: Es gibt Tendenzen in Brüssel, den Kommissar für Gesundheit abzuschaffen und die Themenfelder in andere Bereiche zu bringen. Das werden wir gemeinsam abwehren müssen.

Sehen Sie diese Gefahr, Herr Spahn?

Spahn: Die Debatte gab es und gibt es. Wir haben uns im Ministerrat klar für einen Erhalt des Amtes positioniert. Das wird aber der künftige Kommissionspräsident entscheiden. Ein Kommissar für Gesundheit ist insbesondere bei den grenzüberschreitenden Fragen zu Infektionsschutz, Binnenmarkt, Arzneimittelzulassungen oder seltenen Erkrankungen sinnvoll.

Herr Montgomery, Sie stellen sich auf dem Deutschen Ärztetag in Münster nicht zur Wiederwahl. Wenn wir nach vorne schauen: Was geben Sie dem Minister mit auf den politischen Weg?

Montgomery: Ein Thema, das wir mit großem Schwung angefangen haben, ist die GOÄ, die trotz BMG- Honorarkommission und möglichen nächsten Bundestagswahlen weiter umgesetzt werden sollte. Über die Digitalisierung hinaus bleibt die grundsätzliche Frage, wie strukturieren und finanzieren wir die Gesundheitsversorgung einer älter werdenden Gesellschaft. Und da muss man auch an die Verantwortung der Bundesländer erinnern. Der von ihnen verursachte Investitionsstau in den Krankenhäusern liegt bei rund 30 Milliarden Euro. Wir als Ärztekammern haben unseren Teil der politischen Aufgaben sehr gut erledigt: Wir haben beim Fernbehandlungsverbot nachgebessert und haben bei allen ethischen Fragen unsere Hausaufgaben gemacht. Besonders freut mich, dass wir eine neue, moderne (Muster-)Weiter­bildungs­ordnung verabschiedet haben. Darauf werden wir uns nicht ausruhen, weil auch die Ausgestaltung der ärztlichen Weiterbildung ein Dauerprozess ist. Wir werden also schon jetzt mit den Arbeiten für die nächste Novelle beginnen, die vielleicht in zehn Jahren kommt.

Spahn: Muss das immer so lange dauern? Ich finde nicht. Aber lassen Sie mich lieber zum Schluss noch einmal Danke sagen! Herr Montgomery: Sie haben über die Jahre vieles Gute für das Gesundheitswesen angestoßen. Allein, was sie für die Mitglieder des Marburger Bundes erreicht haben, ist beachtlich – auch wenn es das Gesundheitssystem teuer zu stehen kommt. Auch die Zusammenarbeit mit Ihnen als Bundes­ärzte­kammerpräsident habe ich immer als sehr konstruktiv und angenehm erlebt. Sie hinterlassen große Fußstapfen.

Montgomery: Herrn Spahn wird oft Aktionismus unterstellt. Das ist aber nicht so schlimm, da er auch die Fähigkeit hat, zurückzuschalten. Und die sollte er sich erhalten. Es ist manchmal sehr gut, einen Stein ins Wasser zu werfen und zuzusehen, wie die Kringel laufen, um dann hinterher zu sagen, was geht und was nicht geht. Das war allerdings beim TSVG und der Vielzahl der Änderungsanträge extrem anstrengend. Beim Psychotherapeutengesetz oder beispielsweise auch beim OTA-Vorhaben warne ich davor – und zwar im Interesse der Patienten – originär ärztliche Aufgaben infrage zu stellen. Es ist verführerisch, Ärzte entlasten zu wollen, aber das darf eben nicht auf Kosten der Patientensicherheit gehen. Im Übrigen lassen sich Ärztinnen und Ärzte am besten entlasten, wenn die Politik für ausreichend ärztlichen Nachwuchs sorgt. Dafür brauchen wir mehr echte Medizinstudienplätze und keine Onlinehochschulen. Dafür werde ich mich auf europäischer Ebene, als Präsident des Ständigen Ausschusses der Ärzte der Europäischen Union, einsetzen.

Spahn: Ich wünsche Ihnen bei Ihrer neuen Aufgabe eine glückliche Hand. Und werfen Sie nicht jedem Stein des Ministers noch einen hinterher…

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