Ist der Pflegemarkt ein Markt? - Über Sinn und Unsinn wirtschaftspolitischer Großbegriffe in der Pflegepolitik

Gastbeitrag des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn im Handelsblatt

Was ist eine angemessene Rendite für Pflegeeinrichtungen? Soll es private Betreiber von Pflegeheimen geben? Welche Vorgaben dürfen wir den Anbietern von Pflegeleistungen machen? In den vergangenen Tagen sind Fragen wie diese wieder intensiv diskutiert worden. Die Koalition würde entgegen der Logik der Marktwirtschaft handeln und deren Grundsätze missachten, ist der implizite oder gar offene Vorwurf. Ich finde es wichtig und richtig, diese Debatte zu führen. Aber wir sollten sie ehrlich und umfassend führen. Warum? Weil es darum geht, für 3,3 Millionen pflegebedürftige Bürgerinnen und Bürger eine qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen. Und weil wir wollen, dass dieses Angebot wirtschaftlich erbracht wird. Nur wenn wir die begrenzten Ressourcen der Solidargemeinschaft effizient einsetzen, bleibt die Pflege für den Einzelnen finanzierbar.

Pflege ist kein Markt wie jeder andere. Und zwar aus zwei Gründen. Erstens haben alle Pflegebedürftigen einen Anspruch auf Versorgung, auch wenn sie sich diese eigentlich gar nicht leisten können. Das ist ein politisches Versprechen. Und das lassen wir uns als Solidargemeinschaft zurecht etwas kosten: Der weit überwiegende Teil der Leistungen wird durch Pflegeversicherung und Sozialhilfe - also umlagefinanziert über Beiträge und Steuern– bezahlt.

Zweitens sind Pflegebedürftigen auch nicht mit normalen Kunden zu vergleichen. Die Mehrheit ist alt, krank oder dement. Viele Pflegebedürftige sind also häufig gar nicht in der Lage, ohne Unterstützung Dritter (Vertrags-)Entscheidungen zu treffen oder ihre Rechte durchzusetzen. Daher gibt es staatliche Kontrollen und Vorgaben für eine gute Pflege. Zugang für alle, Bezahlbarkeit und eine gute Versorgung - nichts davon würde sich in der Praxis ohne einen vernünftigen Regulierungsrahmen einstellen.

Und damit sind wir auch schon mitten in der Debatte:

Zunächst, ja: In der Pflege sind auch private Betreiber tätig und sollen es auch unbedingt sein. Denn eine Vielfalt, ein Wettbewerb der Anbieter liegt im Interesse der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. Sie sollen frei wählen können zwischen Pflegeanbietern - ambulant wie stationär - mit unterschiedlichen Profilen, Schwerpunkten Angeboten. Und Anbieter mit schlechter Qualität und schlechtem Ruf sollen im Wettbewerb besser werden müssen, um wirtschaftlich bestehen zu können. Private Anbieter sind zudem nicht nur für einen funktionierenden Wettbewerb unabdingbar, sie leisten auch einen entscheidenden Beitrag, um die Milliarden-Investitionen in Pflegeheime und -angebote stemmen zu können, die bei einer immer älter werdenden Bevölkerung in Zukunft noch anstehen. Ein Platz im Pflegeheim erfordert Investitionen von etwa 120.000 Euro. AWO, Caritas und Diakonie allein werden die Milliarden nicht aufbringen.

Und ja, Pflegeeinrichtungen sollen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien und Maßstäben geführt werden. Am Ende braucht jede Unternehmung, die sich im Wettbewerb bewähren soll, schwarze Zahlen. Das unternehmerische Risiko, etwa einer möglichen (vorübergehenden) geringeren Belegung als geplant, muss honoriert, Investitionen gestemmt, Zukunftsplanung betrieben werden. Also ist gutes Management gefragt, beim Einkauf ebenso wie beim Personaleinsatz. Wir sollten daher nicht von unseren Berliner Schreibtischen aus die besseren Geschäftsführer von Pflegeeinrichtungen sein wollen und alles en detail und zentral regeln.

Nun folgt das Aber: Der ganz überwiegende Teil der Kosten in der Pflege sind die Personalkosten. Der effiziente Einsatz des Personals, effiziente Abläufe und eine schlanke Organisation sind notwendig. Aber die Versuchung ist naturgemäß groß, bei diesem größten  Kostenblock so zu sparen, dass es zu Lasten der Pflegekräfte und der Pflegebedürftigen geht. Denn zu wenig Kollegen bedeutet für die Pflegekräfte Dauerstress, Krankheit, Selbstausbeutung in einem eh schon sehr fordernden Beruf. Und deswegen braucht es einen verbindlichen Rahmen für die Personalausstattung und die Bezahlung in der Pflege. Zumal die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt für Fachkräfte ja bereits in Teilen für steigende Löhne sorgt. Einen Wettbewerb, wer seine Mitarbeiter am schlechtesten behandelt, wollen wir jedenfalls definitiv nicht!

Auch ist das unternehmerische Risiko der Anbieter im Pflegesektor im Vergleich zu vielen anderen Wirtschaftsbereichen anderer Art und in manchen Fragen relativ: Denn durch die Pflegeversicherung sind die Pflegeleistungen der Einrichtungen zumindest in Höhe der jeweils fixierten Leistungsbeträge in jedem Fall abgedeckt. Und auch in den Fällen, in denen die Heimbewohner den Restbetrag nicht vollständig aus eigenen Mitteln bestreiten können, sind entweder unterhaltspflichtige Angehörige oder der Sozialhilfeträger einstandspflichtig. Das Inkasso-Risiko ist also begrenzt. Zudem ist angesichts der demographischen Entwicklung das künftige Kundenpotential gesichert. Nicht zuletzt diese Unabhängigkeit von konjunkturellen Schwankungen macht ein Investment in die Pflegebranche für manchen Anleger ja so attraktiv.

In diesem Markt stehen die Betreiber von Pflegeheimen mit den Kostenträgern, also den Pflegekassen und Sozialhilfeträgern, in Vergütungsverhandlungen. Es werden bindende Preisvereinbarungen getroffen, die einerseits Wagnis und Gewinn angemessen berücksichtigen sollen, die aber doch vor allem am Versorgungsaufwand und an der Einhaltung der Qualitätsanforderungen orientiert sind. Wer sich in diesen Markt begibt, muss sich überprüfen lassen – gerade weil der Markt hier seiner Auslesefunktion weniger nachkommen kann als auf typischen anderen Märkten der Privatwirtschaft. Hier muss folglich derjenige, der bezahlt, auch Vorgaben zu Mindeststandards machen können, im Sinne des Ziels einer guten und gesicherten Mindestqualität. Und er muss einen effizienten Mitteleinsatz sicherstellen, im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner sowie der Arbeitgeber, die diese Leistungen wiederum größtenteils über Beiträge zur Pflegeversicherung bezahlen.

Insofern ist Wettbewerb, ist Markt in der Pflege kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck: für einen effizienten Einsatz begrenzter Mittel, für eine gute pflegerische Versorgung, für die Mobilisierung notwendiger Investitionen. Aber es ist immer ein regulierter und auch politisch sensibler Markt. Wenn man nun eine Regulierung dort für denkbar hält, wo sehr hohe Gewinne fast nur durch vorsätzliches Absenken der Versorgungsqualität zustande kommen können, dann sind das keine „Enteignungsphantasien“ und wir führen in der Pflege auch nicht den Sozialismus ein. Die Frage ist nur, ob ein kapitalmarktgetriebenes Fokussieren auf zweistellige (!) Renditeerwartungen angemessen wäre. Und wenn ich mir einen so personalintensiven Bereich unseres Sozialwesens anschaue, dann lautet meine Antwort "Eher nicht"!

So weit zu den Strukturen selbst. Ich sehe auch nicht, inwiefern die politische Umsetzung eines sehr weitgehenden gesellschaftlichen Konsenses zur Ausweitung der Pflegeleistungen unter ebenfalls generationenübergreifend artikulierter Bereitschaft zur Inkaufnahme höherer Kosten illiberal, anti-marktwirtschaftlich und generationen-ungerecht sein soll. Auch der liberale Kosmopolit und der mittelständische Unternehmer will eine gute Versorgung im Alter - und in jedem Fall auch für seine pflegebedürftigen Eltern. Freiheit bedeutet auch, sich frei zu fühlen von bestimmten existenziellen Sorgen.

Vielleicht ist auch ein weiterer Hinweis ganz grundsätzlicher Art am Ende immer wieder nötig: Minister in Koalitionsregierungen setzen Vorgaben und Geist eines Koalitionsvertrags um. Die Vorstellung, ein Minister oder eine Ministerin könne unliebsame Mehrheiten oder Verhandlungsergebnisse in dieser oder jener gewünschten Hinsicht überholen und links oder rechts liegenlassen, ist erstaunlich unpolitisch – und auch undemokratisch. Es hat im September 2017 kein Wähler-Mandat für eine Ausweitung des Markt-Charakters des in der Pflege gegeben. Tun, was nach einer Wahl zwischen Koalitionspartnern verabredet wurde: Das ist Demokratie und das ist Minister-Arbeit als Amtsausübung auf Zeit und als ernstgenommener Auftrag des Souveräns.

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