Spahn: "Bin zuversichtlich, dass die Pandemie in einigen Monaten ihren Schrecken verliert."
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland zu aktuellen Entwicklungen in der Corona-Pandemie und der deutschen Impfstrategie
RND: Herr Spahn, am Mittwoch gab es massive Proteste gegen die Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes. Die Szene radikalisiert sich offensichtlich. Wie sollte die Politik darauf reagieren?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Man darf sich durch die Bilder und die Laustärke vom Mittwoch nicht täuschen lassen. Das ist eine laute Minderheit. Die große Mehrheit der Deutschen trägt die Corona-Politik des Bundes und der Landesregierungen grundsätzlich mit. Noch wichtiger: Die große Mehrheit lebt diese Politik in ihrem Alltag und passt aufeinander auf. Das tun sogar auch viele diejenigen, die mit diesen Einschränkungen hadern oder an mancher Entscheidung zweifeln.
Das heiß, Sie ignorieren Sie die Proteste?
Absolut nicht. Protest und Kritik ist in einer Demokratie nicht nur erlaubt, sondern sogar gewünscht. Mit vielen Gegnern unserer Politik ist ja auch ein Gespräch möglich ist, es geht um nachvollziehbare Sorgen, Probleme, Existenznöte. Diese Diskussion, dieses Gespräch ist unbedingt notwendig. Denn wir erleben aktuell die umfangreichsten Einschränkungen von Freiheitsrechten in der Geschichte der Bundesrepublik erleben. Aber auf diesen Demonstrationen sind auch die Rechtsextremen, die Reichsbürger, die Verschwörungstheoretiker. Da ziehe ich eine klare Grenze. Was mich besorgt und irritiert: Am Mittwoch wehte die Regenbogenflagge neben der Reichskriegsflagge. Da sollten sich die Fahnenträger der Regenbogenflagge schon überlegen, mit wem sie sich gemein machen.
Aber wie wollen Sie dieser gefährlichen Mischung beikommen?
Erklären, erläutern und das Gespräch suchen – soweit es gewünscht ist. Und dann transparent entscheiden. Das ist das Rezept. Das hat übrigens bei der Corona-Warn-App sehr gut geklappt. Wir haben die Bedenken rund um den Datenschutzes transparent diskutiert und aufgegriffen und damit eine breite gesellschaftliche Akzeptanz erreicht. Deshalb begrüße ich es auch, dass die Corona-Einschränkungen im Bundestag kontrovers diskutiert werden.
Wie meinen Sie das?
Die Migrationskrise 2015 hat auch deshalb für manchen Frust gesorgt, weil sich ein bestimmter Teil der Debatte im Bundestag nicht wiedergefunden hatte. Das ist im Fall von Corona heute nicht der Fall.
Wollen Sie damit sagen, dass Sie es gut finden, dass inzwischen die AfD im Bundestag sitzt?
Nein, im Gegenteil. Es geht um konstruktive Debatten, daran hat die AfD kein Interesse. Aber ich darf daran erinnern, dass auch die FDP und die Linkspartei gegen die Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes gestimmt haben. Es ist für eine Demokratie immens wichtig, dass auch von der Mehrheit abweichende Meinungen im Parlament geäußert werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sehen, dass ihre Kritik auch im Parlament ausgesprochen wird. Dann wird der Bundestag seiner repräsentativen Funktion am besten gerecht.
Apropos erklären: Was werden die Bundesregierung und die Länder-Chefs der Bevölkerung nach ihrer Konferenz am Mittwoch verkünden?
Ich hatte vor einigen Tagen eine Schalte mit einem Verband junger Gastwirte. Neben allen Existenzsorgen, die vorgetragen wurden, habe ich eine dringende Bitte gehört: Planungssicherheit. Die Bürgerinnen und Bürger wollen wissen, was in den nächsten vier bis sechs Wochen gilt und was die Maßstäbe sind. Das heißt: Wir müssen am Mittwoch eine bestmögliche Perspektive für den Zeitraum bis nach dem Jahreswechsel geben.
Wie bewerten Sie die aktuellen Infektionszahlen?
Wir haben es nach dem Frühjahr nun zum zweiten Mal geschafft, die Infektionswelle zu brechen. Es gibt aktuell kein exponentielles Wachstum mehr. Allerdings ist das aktuell eine Art Seitwärtsbewegung. Wir haben sicheren Boden unter den Füßen, aber wir sind noch nicht über den Berg. Das Virus hat leider eine sehr lange Bremsspur. Es kommt nun darauf an, ob die Zahlen in den nächsten Tagen sinken. Davon wird am Mittwoch viel abhängen.
Das übergeordnete Ziel heißt, das Gesundheitswesen nicht zu überlasten. Ist das gewährleistet?
Das Gesundheitswesen hat ausreichend Kapazitäten, um unter Anstrengungen mit den aktuellen Infektionszahlen klar zu kommen. Das hat die massive Grippewelle von 2017/18 gezeigt, wegen der es in Deutschland zeitgleich in etwa so viele Intensivpatienten zusätzlich gab wie jetzt. Auch damals gab es Stress auf den Intensivstationen, aber es ging. Es darf nur nicht viel mehr werden. Das Vermeiden von Infektionen und das Maskentragen macht übrigens nicht nur bei COVID-19 einen Unterschied auf den Intensivstationen. Im Februar 2020 beispielsweise waren im Schnitt pro Tag 858 Patienten aufgrund einer viralen Infektion bei gleichzeitiger Chronisch Opstrukiver Atemwegserkrankung (COPD) auf Intensivstation. Im Monat Mai waren es dagegen nur noch 411. Dieser Rückgang ist mehr als 50 Prozent stärker als der typische jahreszeitlich bedingte Rückgang der Patientenzahlen in beiden Jahren zuvor. Weniger Virusübertragungen durch die AHA-Regeln, das schützt also auch bei anderen Krankheiten und entlastet das Gesundheitswesen.
Sie geben also Entwarnung?
Nein. Unkontrolliert steigende Infektionszahlen, das ist das Gefährliche. Wir müssen dieses Virus und seine Infektionsketten bestmöglich unter Kontrolle bekommen und behalten.
Sie sprachen von der Perspektive für die nächsten Wochen. Wie sollte die aussehen?
Während der gesamten Winterzeit werden wir wohl auf Feiern verzichten müssen. Alles andere werden wir am Mittwoch besprechen.
Wie geht es in den Schulen und Kitas weiter?
Für die Kinder und ihre Eltern ist es sehr wichtig, dass Schulen und Kitas offen bleiben. Wir müssen aber über bessere Konzepte dafür sprechen. Da gilt es, pragmatische Lösungen zu finden. Besonders für den Fall, dass sich ein Kind infiziert. Ein Vorschlag: beim Auftreten eines Infektionsfalls wird umgehend die betroffene Klasse in die häusliche Isolation geschickt. Nach negativen Schnelltests am fünften Tag könnten die Schülerinnen und Schüler wieder in die Schule zurückkehren. Ob das aus Sicht der Länder vor Ort umsetzbar ist, darüber müssen wir am Mittwoch sprechen. Infektionsketten wirklich unterbrechen und gleichzeitig lebenspraktisch bleiben, das ist die Aufgabe./typo3/
Apropos. Haben Sie eigentlich bei Ihrer Covid-19-Infektion alle Kontakte vorschriftsgemäß und nach bestem Wissen informiert?
Das habe ich. Ich weiß allerdings immer noch nicht, wo ich mich angesteckt habe. Ich kann uns im Übrigen nur dringend davor warnen, eine Ansteckung mit der Schuldfrage zu verbinden. Das tut dem Zusammenhalt nicht gut. Und es gefährdet die Bereitschaft, bei der Aufdeckung der Infektionswege zu helfen. So eine Schulddebatte hat schon bei anderen Viren zu nichts geführt.
Sie besuchen am Montag das Dessauer Unternehmen IDT. Erwarten Sie von diesem Unternehmen ebenfalls einen zulassungsfähigen Impfstoff?
Aus heutiger Sicht gibt es die begründete Hoffnung, dass auch die Dessauer IDT noch 2021 eine Zulassung für einen Impfstoff schaffen könnten. Es ist sehr ermutigend und kann uns auch stolz machen, dass nach Biontech und Curevac das dritte deutsche Impfstoffprojekt auf einem vielversprechenden Weg ist.
Wird sich Deutschland auch von diesem Unternehmen Impfdosen sichern?
Ja, wir werden auch mit IDT einen Vertrag schließen. Ich habe immer gesagt, dass wir uns bei der Beschaffung möglichst breit aufstellen müssen. In der Impfstoffentwicklung kann es immer wieder Rückschläge geben. Zudem gibt es uns auch zusätzliche Sicherheit, wenn die Produktion in Deutschland und Europa stattfindet.
Wie viele Dosen hat sich Deutschland inzwischen gesichert?
Wenn alle Hersteller ins Ziel kämen, mit denen wir über die EU-Kommission oder bilateral Verträge und Optionen vereinbart haben, kommen wir auf mehr als 300 Millionen Impfdosen für Deutschland. Auch bei zwei Dosen pro Impfung hätten wir dann genug für die eigene Bevölkerung und könnten mit anderen Ländern teilen. Aber wie gesagt, das beschreibt den günstigsten Fall. Wir wissen nicht, welcher Impfstoff wirklich wie wirkt. Und wir wissen noch nicht, wie lange die Immunität anhält.
Wenn dann etwa zwei Drittel der Bevölkerung durchgeimpft und damit die Herdenimmunität erreicht ist, können die Beschränkungen endgültig fallen?
Im Prinzip ja. Um den Zeitpunkt dafür genauer bestimmen zu können, bauen wir eine Online-Plattform über die erreichten Impfquoten auf, nach Alter und Regionen differenziert. Insbesondere dann, wenn wir bei den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen eine hohe Impfquote erreicht haben, werden wir die Beschränkungen schrittweise lockern können. In diesem Zusammenhang möchte ich auch an das medizinische und pflegerische Personal appellieren, sich impfen zu lassen. Sie haben eine hohe Verantwortung. Denn es muss verhindert werden, dass das Virus in Kliniken und andere medizinische Einrichtungen getragen wird.
Wann rechnen Sie mit der ersten Impfung?
Es gibt Anlass zum Optimismus, dass es noch in diesem Jahr eine Zulassung für einen Impfstoff in Europa geben wird. Und dann können wir mit den Impfungen sofort loslegen. Ich habe die Länder gebeten, dass die geplanten Impfzentren bereits Mitte Dezember einsatzbereit sind. Das scheint zu klappen. Ich habe lieber ein startbereites Impfzentrum, das noch ein paar Tage außer Betrieb ist, als einen zugelassenen Impfstoff, der nicht gleich genutzt wird.
Wird es dann tatsächlich noch ein Jahr dauern, bis die gesamte Bevölkerung durchgeimpft ist?
Das ist schwer zu sagen. Allerdings benötigt man für viele der voraussichtlichen Impfstoffe keine tiefe Kühlung. Sie können in normalen Arztpraxen genutzt werden. Und dann geht es schnell: Vergessen wir nicht, dass jährlich in wenigen Wochen bis zu 20 Millionen Menschen gegen Grippe geimpft werden. Da leisten unsere Arztpraxen jedes Jahr Großes, quasi nebenbei.
Wo stehen wir in einem Jahr?
Der nächste Herbst und Winter werden sicherlich deutlich angenehmer als die jetzt vor uns liegenden Monate. Angesichts der Erfolge bei der Impfstoffentwicklung bin ich zuversichtlich, dass die Pandemie in einigen Monaten ihren Schrecken verliert. Aber bis dahin müssen wir durchhalten und aufeinander aufpassen.
Stichwort begründete Zuversicht: Gehen Sie davon aus, dass der CDU-Parteitag Mitte Januar digital stattfinden muss?
Dass größere Veranstaltungen mit mehreren hundert Teilnehmern in diesem Winter wieder stattfinden, ist momentan schwer vorstellbar.